Jorid Lukaczik, in Tarjei Vesaas' Roman "Der Keim" kommt ein Fremder auf eine Insel und ermordet eine junge Frau. Die Bewohner, angeführt von ihrem Bruder, jagen, hetzen und töten diesen Fremden schließlich. Sie spielen den Bruder der jungen Frau, Rolv. Was ist das für ein Mensch?
Jorid Lukaczik: Rolv ist ein junger Mensch, der auf dieser Insel aufgewachsen ist und dort sein gesamtes Leben verbracht hat. Er ist sehr mit sich beschäftigt, hängt seinen Gedanken nach. Er fühlt sich nicht unbedingt zugehörig.
Er hat ja auch, anders als die übrigen Inselbewohner, auf dem Festland studiert ...
Genau. Er hat also auch, genau wie sein Vater, einen Einfluss von außen erlebt, der erst einmal vermuten lässt, dass er eine erweiterte moralische Sichtweise hat.
Er hat eine Freundin, Else, von der er sich trennt, aber eigentlich fühlt er sich nicht gut damit, oder?
Er ist die ganze Zeit auf der Suche, wer er sein will oder auch sein kann. Bei Else kann er aber auch liebevoll und leidenschaftlich sein.
Wie haben Sie sich so dieser komplexen Figur, die schließlich zum Mörder wird, genähert?
Auf unterschiedliche Arten. Der Roman gibt durch die Beschreibung von Rolv schon sehr viel vor. Das ist ja etwas anderes, als wenn es ein Bühnenstück wäre. Ich finde zudem sehr viel auf den Proben über ihn heraus, durch die verschiedenen Figuren, auf die er trifft. Zuerst ist es also eine eher intellektuelle Arbeit, und dann schaue ich, wie sich das auf der Bühne einlöst, was ich mir über die Figur gedacht habe, in der Begegnung mit den Menschen. Das ändert sich dann oft grundlegend. Die Rolle ist jedenfalls sehr herausfordernd.
"Der Keim" ist 1940 in Norwegen erschienen, kurz nachdem das Land von den Nationalsozialisten besetzt wurde. Wie politisch ist das Buch, das ja keine reale Situation beschreibt, sondern eine seltsam archaisch anmutende Parabel ist, für Sie?
Sehr, man kann sich das ja heute kaum aus dem Kontext, in dem es entstanden ist, wegdenken. Trotzdem ist er zeitlos, weil er dieses Phänomen beschreibt, wie eine Gruppe sich zu etwas verleiten lässt, sich in etwas hineinsteigert, was außer Kontrolle gerät. Dadurch lädt sie Schuld auf sich. Das ist total aktuell.
Der titelgebende "Keim" bezieht sich darauf, dass die Inselbewohner trotz dieser monströsen Schuld lernen weiterzuleben: "Im Staub schien ein Keim verborgen gewesen zu sein. So dass man aufstehen konnte", heißt es an einer Stelle. Eine sehr optimistische Wendung, oder?
Beim Lesen dachte ich zunächst, aha, so leicht kommen sie jetzt davon. Aber was ich auch an Rolv so besonders finde, ist, dass er sich die Schuld eingesteht, dann ja auch bestraft wird, das Ganze aber produktiv nach vorne wendet. Er könnte der Vorreiter werden für die Fragestellung, wie man über Fehler redet und sie nicht wegschweigt. Aber auch die anderen Bewohner, die ja Mittäter sind, stellen sich ihrer Schuld sehr klar: Man kann, ja, man muss weitermachen und herausfinden, wie das geht.
Im Roman spielt eine große rote Scheune eine bedeutende Rolle als Treff- und Anziehungspunkt. Wird die auch auf der Bühne zu sehen sein?
Nein, aber die Grundsituation wird es geben und dazu eine besondere Lichtsituation. Aber eigentlich ist das gesamte Kleine Haus die Scheune, und das Publikum ist mitten drin.