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Timm Ulrichs in der Weserburg Total unter Strom

"The end" ist auf sein Augenlid tätowiert. Die letzte Szene eines Films, der das Leben des Künstlers Timm Ulrichs abbilden könnte. Die Weserburg zeigt einen Rückblick auf sein kreatives Schaffen.
15.09.2021, 18:01 Uhr
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Total unter Strom
Von Simon Wilke

Tja, die Bahn. Eigentlich warten an diesem Mittwochmittag in der Weserburg alle auf Timm Ulrichs, doch der steckt fest. Irgendwo auf der Zugstrecke zwischen Hannover und Bremen hat es ihn ausgebremst. Und dazu gehört schon einiges. Wenn der Künstler eine Sache nicht akzeptiert, dann das Gefühl, gebremst zu werden. Denn davon kann er ein Lied singen. Doch da er selbst heute erst später kommt, übernimmt das die Kuratorin der Ausstellung "Timm Ulrichs Total – Der Künstler als Kunstwerk und seine Künstlerpublikationen seit den 1960er-Jahren", Anne Thurmann-Jajes.

"Lange Zeit hat sich niemand für Ulrichs und seine Kunst interessiert", erzählt sie, "Er hat das dann selbst in die Hand genommen." Und zwar, erstens, indem er 1959 die "Werbezentrale für Totalkunst, Banalismus und Extemporismus" gründet und fortan seine Plakate, Postkarten oder Flugblätter en masse an Künstler und Galeristen verschickt, und zweitens, indem er sich 1961 kurzerhand selbst zum Kunstwerk erklärt. Ein Skandal, natürlich, aber einer, der ihm Aufmerksamkeit verschafft. Ein Bild gleich zu Beginn der Ausstellung zeigt ihn in der Galerie Patio in Frankfurt auf einem Stuhl sitzend, beäugt von Publikum.

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Die Ausstellung ist ein Rückblick auf das künstlerische Lebenswerk Ulrichs', mit repräsentativen Werken aus sämtlichen Jahrzehnten seit den 1960ern. Geordnet, wenn man das so nennen kann bei einem Freigeist wie ihm, nach den Themenkomplexen Selbstdarstellung und literarisches Schaffen. Selbstdarstellung – wie die filmgleiche Inszenierung seines Lebens.

"The end" ist auf das Lid seines rechten Auges tätowiert, nur für den Fall, dass er selbiges einmal für immer schließt und eine Kamera vor Ort ist, und eine Zielscheibe über seinem Herzen trägt er als Unterstützung für die Gegner des Franquismus in Spanien. Und literarisches Schaffen? Hierunter sollte man nicht die klassische Lyrik verstehen, sondern Visuelle und Konkrete Poesie. Bei Ulrichs hören Worte auf zu beschreiben, sondern werden selbst zu Bildern. "Stets" ist in der Weserburg beispielsweise zu lesen, von links nach rechts, von rechts nach links, von oben nach unten, einmal rundherum in Kreisform.

Timm Ulrichs' Kunst gleicht einem Balanceakt zwischen Ernsthaftigkeit und Humor, Wagemut und, man muss das so sagen, Wahnsinn. Mal jagt er Bücher durch einen Aktenvernichter, nur um die Schnipsel anschließend in Buchform zu bringen und auszustellen, mal veröffentlicht er in Anlehnung an Maurizio Cattelan ganzseitige Zeitungsnachrufe auf sich selbst: "Totalkünstler Timm Ulrichs von einem Meteoriten erschlagen!". Dann wieder erstellt er einen Band mit etlichen originalen Bildausschnitten aus Porno-Magazinen, bei denen Werke von Turner, Spitzweg oder van Gogh im Hintergrund entdeckt hat. Manchmal, aber das ist natürlich nicht Teil der Ausstellung, läuft er sogar bei Gewitter als "lebender Blitzableiter" nur mit einer Eisenstange "bekleidet" über eine Wiese. "Darauf muss man erstmal kommen", bemerkt Thurmann-Jajes trocken.

Timm Ulrichs wurde 1940 in Berlin geboren, zog vierzehn Jahre später nach Bremen und ging schließlich zum Architektur-Studium nach Hannover. "Nach Abbruch meines Studiums war ich Eisverkäufer, Tellerwäscher, technischer Zeichner und anderes, immer schlecht bezahlt" erzählt er in einem Interview. Statt zum Architekten wird er Totalkünstler, selbst ernannt und -beigebracht. Im Januar 2020 erhält er schließlich den mit 12.000 Euro dotierten Käthe-Kollwitz-Preis für sein Lebenswerk, das "für nachfolgende Künstlergenerationen bis heute Fundgrube und Inspirationsquelle ist", wie es in der Begründung heißt.

In der Weserburg sind nun bis in den Januar 2022 hinein ausgewählte Werke aus dieser Fundgrube zu sehen. Sie stammen vom Künstler selbst, aber auch aus dem Archiv des Zentrums für Künstlerpublikationen, dessen Leiterin Anne Thurmann-Jajes ebenfalls ist. "Wir haben gezielt Publikationen von Tim Ulrichs gesammelt, weil er mit seinen Impulsen für die Kunstszene in Deutschland und Europa extrem wichtig ist", sagt sie. "In dieser Ausstellung sieht man einen Querschnitt dessen, was er alles gemacht hat."

Und apropos Impulse: Ein Werk ist nicht nur nicht zu übersehen, sondern auch nicht zu überhören. In einer Ecke klickt ein überdimensioniertes Buch, das "Buch der Berührungsängste". Es klickt und klickt und klickt und wenn man anfasst, weiß man auch, woran das Geräusch erinnert. An ein elektrisches Feuerzeug. Das Buch steht unter Strom. Genauso wie sein Erschaffer.

Info

Die Ausstellung "Timm Ulrichs Total" eröffnet am Freitag, 17. September, um 19 Uhr in der Weserburg und ist anschließend bis zum 16. Januar 2022 zu sehen.

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