Peter Stühl aus Ottersberg und Günther Rühle aus Bad Soden im Taunus, das waren ersten Menschen, die mich damit beauftragten, etwas aufzuschreiben, damit andere es lesen können. Peter Stühl leitete die Schuldruckerei in der Waldorfschule in Ottersberg und gab ein stets nach guter Druckerschwärze riechendes Schuljournal heraus, es heißt die „Die Eibe“ und erscheint immer noch, benannt nach der berühmten Eibe inmitten des Schulhofs. Stühl sagte: „Moritz, schreib einen Bericht über eure Klassenfahrt!“. Ich tat´s, es war meine erste Reportage, sie ist hoffentlich verschollen.
Der zweite Mensch, der mich zu einem Bericht aufforderte, war der Theaterhistoriker Günther Rühle, geboren am Tag, als Franz Kafka starb, kommenden Montag vor 100 Jahren. Diesem Rühle habe ich mich meine Liebe zu Zeitungen zu verdanken, ohne ihn würde ich hier heute bestimmt nicht schreiben.
Ich war noch Student, als mich Rühle im Studium in Gießen entdeckte und mir den Auftrag gab, für den Berliner „Tagesspiegel“ zu schreiben, er hatte gerade die Leitung des Berliner Feuilletons übernommen. „Wo haben Sie denn gerade eine Freundin?“, fragte er. Ich stutze. „Na ja, aus Gießen können Sie nicht so viel berichten, da wurde ich geboren, da ist nichts los“, erklärte er. „Da aber der Tagesspiegel für so einen Burschen wie Sie kein Hotel und keine Fahrtkosten bezahlt, frage ich, wo Sie eine Freundin haben?“
„In Mailand“, sagte ich. Ich hatte gar keine Freundin in Mailand, ich wusste aber, dass dort die gerade mit Spannung erwartete „Faust“-Inszenierung des berühmten in italienischen Regisseurs Giorgio Strehler herauskam, mit ihm selbst in der Titelrolle, im ebenso berühmten Piccolo-Theater. Darüber wollte ich schreiben!
„Na, dann schreiben Sie mal“, antwortete Rühle. „Faust, gewagter Einstieg, gute Reise!“
Dank Bafög kam ich in Mailand an. Die Aufführung dauerte Stunden, dabei strich sich Faust, der doch recht eitle Strehler, die ganze Zeit wie in einer Shampoo-Werbung durch seine silberne Lockenmähne. Die Überschrift wusste ich schon während der Aufführung: „Vom Himmel durch das Haar zur Hölle!“
In einem Mailänder Hotelzimmer schrieb ich dann meine erste Theaterkritik, ich orientierte mich an Rühle selbst, der Theaterkritiker der FAZ gewesen war, an Rühles vier Einordnungskriterien der Kritik: die ästhetische, zeitgeschichtliche, dramaturgische und die darstellerische Einordnung. Ich schrieb und schrieb, immer nur unterbrochen von merkwürdigen Anrufen des Nachtportiers, da ich mir aus Versehen ein Stundenhotel genommen hatte.
Meine Kritik umfasste zehn Manuskriptseiten, Rühle war nicht in der Redaktion, sondern im Urlaub, und ich sagte dem diensthabenden Redakteur in Berlin auf dessen Frage, ob das denn nicht ein bisschen zu lang geraten wäre: „Nein, Rühle hat gesagt, ich soll so lang.“ Das war natürlich gelogen, aber das Hotel war nach Stunden abgerechnet worden, nun wollte ich wenigstens mehr Zeilengeld haben – und wunderbarerweise erschien tatsächlich eine volle Seite mit meiner allerersten Kritik. Rühle, aus dem Urlaub zurückgekehrt, traute wohl seinen Augen nicht und griff zum Telefonhörer: „Sind Sie verrückt geworden? Eine ganze Seite? So viel Platz hätte ja nicht mal Theodor Fontane gekriegt! Heißen Sie Theodor Fontane? Wiederhören!“
Er hatte aufgelegt. Ich saß wie gelähmt in meiner Gießener Studierstube, das war's, dachte ich. Eine viel zu lange Faust-Kritik und danach nie wieder eine einzige Zeile.
Doch zwei Jahre später holte mich Rühle nach Berlin und war mein erster Chef. Er saß meist mit wachen Augen und seinen stets roten Wangen in einem nur mit riesigen Bücherstapeln ausgefüllten Zimmer und schrieb Kritiken und Kolumnen, er schrieb unentwegt. Oft denke ich heute bei meinen wöchentlichen Kolumnen an Rühle, an seine Disziplin, an seinen wachen Blick, seine Hingabe und seine Zeitungsliebe.