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Rinkes Rauten Mein Aufsatz über das Grundgesetz

Der Dramatiker und Romanautor Moritz Rinke schaut in "Rinkes Rauten" jeden Sonntag im WESER-KURIER auf die Welt. Thema muss nicht immer der SV Werder sein.
25.05.2024, 12:04 Uhr
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Von Moritz Rinke

In der Abiturklasse mussten wir einen Aufsatz über das Grundgesetz verfassen. Da aber der Lehrer, Herr Blumenthal, gleichzeitig auch mein geliebter Deutschlehrer war, untersuchte ich das Grundgesetz erst einmal auf seine literarische Qualität, ich dachte, das sei originell.

Es beginnt ja so, mit der „Eingangsformel“, noch vor der Präambel: „Der Parlamentarische Rat hat am 23. Mai 1949 in Bonn am Rhein in öffentlicher Sitzung festgestellt, daß das am 8. Mai des Jahres 1949 vom Parlamentarischen Rat beschlossene Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der Woche vom 16. bis 22. Mai 1949 durch die Volksvertretungen von mehr als Zweidritteln der beteiligten deutschen Länder angenommen worden ist.“

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Im Prinzip sei an diesem Satz nichts literarisch, schrieb ich, aber es gebe eben die Formulierung „Bonn am Rhein“. Man hätte ja auch einfach nur „Bonn“ schreiben können, denn welches Bonn sollte es sonst sein? Aber man schrieb eben „Bonn am Rhein“, womit diese Sitzung am 23. Mai 1949 sofort viel feierlicher geklungen habe als eine einfache Sitzung in Bonn, ohne „am Rhein“. Eine Sitzung „in Bonn“ klänge ehrlich gesagt auch langweilig, aber eine Sitzung in „Bonn am Rhein“, am deutschen Schicksalsfluss, dem Strom der Nibelungen, besungen von Richard Wagner bis Hölderlin und Heinrich Heine? Viel besser!

Außerdem ergebe die Formulierung „Bonn am Rhein“ eine gute Mischung aus deutscher Bescheidenheit (Bonn) und deutscher Geistesgröße (Rhein). Die Formulierung „Bonn am Rhein“ sei also eine geniale Veranschaulichung, dass die Deutschen nun einerseits bescheiden bleiben, andererseits aber auch nicht aufhören wollen, Größe zu erlangen. In „Berlin an der Spree“ hätte man so ein Grundgesetz gar nicht beschließen können. Berlin stehe für Größenwahn. Und die Spree, verglichen mit dem Rhein, sei ein Pippi-Fluss. „Berlin an der Spree“ wäre also eine desaströse Formulierung für die Eingangsformel gewesen.

Ich glaube, ich bekam eine 1. Den Rest des Grundgesetztes hatte ich gar nicht gelesen.

Jetzt aber, anlässlich des 75. Geburtstages des Grundgesetzes, wurde ich vom Redaktionsnetzwerk Deutschland nach meinem wichtigsten Artikel aus dem Grundgesetz gefragt. Und ob mir im Grundgesetz etwas fehle?

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Ich wollte eigentlich etwas zum Artikel 1 sagen („Die Würde des Menschen ist unantastbar“), aber da fast schon alle über den Artikel 1 gesprochen hatten, bat mich die Redaktion, einen anderen Artikel auszuwählen.

Artikel 5: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten ...“ Vermutlich hätte ich damals in der Abiturklasse bei diesem Artikel ständig mit dem Kopf genickt und bestimmt noch etwas Kluges aus der „FAZ“ oder dem „WESER-KURIER“ zitiert, der schon in der Schulzeit meine Quelle war. Wenn ich allerdings heute auf unsere „zugänglichen Quellen“ schaue, dann werde ich zunehmend panisch. Warum darf man, zum Beispiel auf Tiktok, ungehindert falsche Fakten, Antisemitismus, Rassismus oder Frauenfeindlichkeit verbreiten? Und warum springen jetzt auch noch Politiker wie der Bundeskanzler oder der Gesundheitsminister auf Tiktok herum, anstatt sich zu überlegen, wie man Kinder bei Tiktok vor den Inhalten schützt? Ich merke schon, ein heutiger Abiturklassenaufsatz wäre viel ernster ausgefallen!

„Jeder hat das Recht, seine Meinung zu äußern.“ Ja, ich will ja weiter unbedingt mit dem Kopf nicken, aber was hat uns das bei all den Quellen, die wir mittlerweile haben, gebracht? Ich sehe derzeit keine lebendige demokratische Meinungsvielfalt, sondern eine in Hass und Undifferenziertheit zerstückelte Gesellschaft.

Was mir also fehlt? Ich glaube, es wird höchste Zeit, über unsere heutigen „zugänglichen Quellen“ nachdenken, von denen die Väter des Grundgesetztes in Bonn am Rhein natürlich nichts ahnen konnten. Und wenn es nur der Hinweis ist, dass zu Rechten auch immer Pflichten gehören. Jeder hat die Pflicht, nachzudenken, bevor er sich frei äußert. 

So ein Satz müsste vielleicht immer aufpoppen, wenn man auf seinen Webbrowser geht.

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