Mascha tanzt. Sie singt und tanzt, als gäbe es kein Morgen. Und wahrscheinlich ist es auch genau das, was sie sich in diesem Moment wünscht. Dass dieser kurze Augenblick der Unbeschwertheit mit ihrem Freunden Cem und Sami ewig anhält. Dass sie nicht zurück zu ihrem Freund Elias ins Krankenhaus muss, der in Selbstmitleid versinkt und der eine Wunde am Bein hat, dessen Anblick sie einfach nicht erträgt. Dass sie nicht zurückmuss in die Stille der gemeinsamen Wohnung, die ohne Elias so einsam ist. Und dass sie nicht ständig an die Frau im blauen Kleid denken muss, deren Tod sie als Kind mitansehen musste.
Das Stück
Mit "Der Russe ist einer, der Birken liebt" hat sich das Theater Bremen an den gleichnamigen Romanerfolg von Olga Grjasnowa aus dem Jahr 2012 herangewagt, der 2022 verfilmt wurde und laut Theater in Bremen mittlerweile auch Abiturstoff ist. Mascha, die in den 1990er-Jahren mit ihren Eltern aus Aserbaidschan nach Deutschland geflohen ist, steht im Mittelpunkt der Geschichte. Sie spricht fünf Sprachen fließend, nur über Gefühle und ihre Vergangenheit sprechen kann sie nicht. Sie träumt davon, irgendwann als Dolmetscherin bei den Vereinten Nationen zu arbeiten. Aber wie so oft, wenn es um Träume geht, kommt das Leben dazwischen.
Mascha verliert Elias und flüchtet sich in ihrer Trauer nach Israel. Während die Jüdin in Deutschland nie ganz als Deutsche anerkannt wurde, wird sie hier damit konfrontiert, nicht jüdisch genug zu sein. Gefangen zwischen politischen Konflikten, ihrem Kindheitstrauma, ihrer Trauer und immer stärker werdenden Ängsten, droht Mascha fast kaputt zu gehen. Und der Zuschauer wird mit der Frage entlassen, wie viel eine einzelne Seele ertragen kann.
Das Ensemble
Jorid Lukaczik spielt Mascha mit einer so unglaublichen Power und so großer Wut im Bauch, dass einem als Zuschauer fast der Mund offen stehen bleibt. Euphorie und Ekstase sind oft nur ein Augenzwinkern von Zorn und Verzweiflung entfernt, und jedes einzelne Gefühl nimmt man Lukaczik ab. Schauspiel der Extraklasse.
Doch auch der Rest des neunköpfigen Ensembles macht dieses Stück zu etwas Besonderem.
Simon Zigah mimt einen liebenswerten Cem, der für Mascha nicht nur einmal zum lebensrettenden Trostspender wird. Und Lisa Guth meistert ihre Rolle der Sami zudem mit einer unvorhergesehenen Einschränkung: Aufgrund eines Bühnenunfalls bei den Proben, bei dem Guth sich einen Muskelfaseranriss zugezogen hat, spielt sie fast das gesamte Stück über im Rollstuhl. Hätte Theaterintendant Michael Börgerding dies vor Beginn der Premiere im Kleinen Haus am Freitag nicht angekündigt, der Zuschauer hätte es auch für eine gewollte Regieentscheidung (Regie: Nina Mattenklotz, Dramaturgie: Sonja Szillinsky) halten können.
Levin Hofmann verkörpert Elias und weitere Männer, die im Laufe von Maschas Leben eine Rolle spielen, mit traurigem Hundeblick und einer gewissen Melancholie, und auch Patrick Balaraj Yogarajan, Alexander Swoboba, Judith Goldberg, Laman Leane Israfilova und Maxim Mamochkin überzeugen in verschiedenen kleineren Rollen. Besonders beeindruckend: Einzelne Sätze im Stück werden immer wieder in fünf verschiedenen Sprachen wiederholt, wobei das Ensemble spielend zwischen den unterschiedlichen Sprachen hin und her wechselt.
Das Bühnenbild
Mascha und Elias wohnen "zwischen einer chinesischen Wäscherei und einem alternativen Jugendzentrum" in einer Wohnung, die günstig ist, aber auch so hellhörig, dass man vom Wecker der Nachbarn geweckt wird. Und genau in diese kleine Wohnung nimmt das Theater Bremen (Bühne: Johanna Pfau) seine Zuschauer mit. Eine winzige Küche, zusammengewürfelte Möbel, Bücherstapel, ein Klavier und ein kleines Bad, in das das Publikum über wacklige Kamerabilder auf einer Leinwand im Hintergrund Einblicke erhält, zieren das aus alten Rohren zusammengebaute Ein-Zimmer-Karussell, das je nach Szene im Bühnenraum seine Position wechselt. Das Setting in der zweiten – in Israel spielenden – Hälfte des Stückes ist von mehr Weite geprägt, aber auch von Steinen, die sich fast schon metaphorisch wie kleine Stolperfallen in Maschas Weg legen.
Fazit
"Der Russe ist einer, der Birken liebt" ist eine Geschichte über Heimat und Identität, über Vorurteile und Alltagsrassismus. Sie erzählt von einer Sinnsuche zwischen Frankfurt und Israel. Vielmehr noch ist es aber eine Geschichte darüber, welche Traumata Kriegserlebnisse, aber auch der Tod an sich auslösen können. Darüber, wie wenige Sekunden ein ganzes darauf folgendes Leben prägen und verändern können. Dem Theater Bremen gelingt es, auch in einer Geschichte voller Trauer ein wenig Hoffnung zu bewahren und den Zuschauer auf eine emotionale Achterbahnfahrt mitzunehmen. Belohnt wird all das mit langem Applaus, der insbesondere Jorid Lukaczik gilt.