Wie kam die Idee zu dem Buch?
Anna Jäger: Mein Kind, Paul, ist elf Jahre alt und hat frühkindlichen Autismus. Er ist die Inspiration zu dem Buch gewesen.
Wie genau macht sich frühkindlicher Autismus im Alltag bemerkbar?
Anna Jäger: Per Definition ist frühkindlicher Autismus eine Entwicklungsstörung. Konkret im Alltag mit Paul bedeutet es, dass wir täglich vor kleinen Rätseln stehen. Denn er zeigt uns seine Bedürfnisse eher, als dass er sie sagen kann. Er antwortet nicht auf die Frage: Wie geht es dir? Wir müssen das ablesen.
Florian Bosum: Er kann sprechen, aber nicht kontextgebunden. Er hat Echolalie, er zitiert also manchmal ganz plötzlich Filme und Kinderbuchpassagen. Er ist sehr kreativ. Im Grunde sind wir alle, die wir hier zusammenwohnen, Künstler.
Gibt es andere Kinderbücher zum Thema Autismus?
Anna Jäger: Ja, gibt es. Und ich freue mich, dass es mittlerweile mehr sind. Denn vor zehn Jahren, als Paul diagnostiziert worden ist, war sehr wenig auf dem Markt im deutschsprachigen Raum. Da hat sich viel getan. Es gibt zum Beispiel "Linus liebt Licht" von Anna Mendel und Jasmin Sturm, darin geht es auch um frühkindlichen Autismus, das Buch ist ganz bezaubernd.
Ihr Buch ist als Mitmachbuch angelegt, der Leser erfährt etwas über Paul, zum Beispiel, dass er manchmal lacht, ohne das andere immer wissen warum. Dann wird der Leser gefragt, wann er selbst zuletzt richtig doll gelacht hat. Oder wen er liebhat, oder was ihn tröstet, wenn er traurig ist. Warum dieser Aufbau?
Anna Jäger: Das Buch ist so geschrieben, wie wir Paul sehen und wie er die Welt sieht. Wie ist es wohl, in seinen Schuhen zu laufen? Der Perspektivwechsel war für mich sehr hilfreich, um Paul zu verstehen. Darum habe ich dieses Mittel gewählt. Das Buch wirft die Frage auf: Wie viel von Paul steckt in mir, oder – noch weitergedacht – wie viel von anderen Menschen generell steckt in mir? Diese Empathie kann hilfreich sein, um Personen mit Autismus zu verstehen.
Wer sollte das Buch Ihrer Meinung nach lesen?
Florian Bosum: Wir sagen immer, alle zwischen 0 und 99....
Anna Jäger: Das sagst du immer, aber ich habe gestern eine Doku über eine 102-Jährige gesehen und da dachte ich noch: Die muss das Buch eigentlich auch lesen! Ich würde also sagen: Alle Menschen, die Freude am Austausch haben, Freude daran, in eine andere Welt zu schauen und betroffene Eltern. Aber auch Menschen aus dem Spektrum selbst, Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen.
Herr Bosum, Sie kennt man unter ihrem Künstlernamen Flo Mega vor allem als Sänger, wie kam es, dass Sie nun dieses Buch illustriert haben?
Florian Bosum: Ich habe tatsächlich mal Integriertes Design mit dem Schwerpunkt Illustration an der Hochschule für Künste studiert. Auch vorher habe ich schon viel gezeichnet, war immer eher ein introvertierter Mensch. Dann kam die Musikkarriere, und das ist ein rabiates Geschäft. Da gehört es nun mal dazu, sich selbst auf einen Sockel zu stellen. Das kann anstrengend sein. Ich wollte auch mal als Florian Bosum wirken und nicht nur als Flo Mega. Mein Plan war immer, meine Reichweite irgendwann auch für Projekte zu nutzen, die meinem ursprünglichen künstlerischen Interesse entsprechen. Und Kinderbücher zu machen ist ein alter Traum von mir. Nun bot sich die Gelegenheit, in diese andere Rolle zu schlüpfen – anonymer, aber trotzdem kreativ zu sein und beim Zeichnen Musik zu hören, anstatt sie zu machen.
Was können wir von Menschen mit Autismus Ihrer Meinung nach lernen?
Florian Bosum: Wir haben in unserer Gesellschaft unsere Jobs, unsere mentalen Belastungen, unsere Engstirnigkeit, unser Verlangen, unsere Gier. Ohne den Autismus zu glorifizieren, hat er einfach eine unglaubliche Kraft und die inspiriert. Paul kann dir, ohne zu sprechen vermitteln, dass man seine eigenen gesellschaftlichen Zwänge einfach mal beiseitelassen soll. Paul kann sich an einer Lavalampe erfreuen, oder daran, dass Spüli irgendwo heruntertropft. Sich an kleinen Dingen zu erfreuen, Zeit einfach mal Zeit sein zu lassen, das können viele nicht, aber Paul kann das. Das, was Menschen aus der Coaching-Szene vehement versuchen, den Menschen beizubringen, setzt Paul jeden Tag ganz automatisch um.
Das Buch ist also auch ein Appell, Autismus nicht als Schwäche anzusehen?
Florian Bosum: Autismus ist auch eine Superkraft. Paul ist perfekt auf seine Art und Weise. Man muss nicht immer in besser und schlechter denken. Er ist die pure Lebendigkeit.
Anna Jäger: Paul wird gemocht, weil er nicht bewertet. Er nimmt alles, wie es ist, und er ist neugierig. Wir wollen mit diesem Mitleidsblick brechen, ohne dabei zu vergessen, dass er auch Hindernisse hat, die andere Menschen nicht haben.
Wie hat Paul selbst auf sein Buch reagiert?
Anna Jäger: Er lächelt sehr vergnügt, wenn er die Bilder sieht. Ich lese ihm das Buch jetzt abends immer vor, dann freut er sich und kichert.
Sind weitere Kinderbücher von Ihnen beiden in Planung?
Florian Bosum: Ja, wir haben schon neue Geschichten in Planung. Bremen ist ja nun auch Literaturstadt. Da kann man was bewegen und hat vielleicht auch die Chance auf Förderung, da schaue ich mich gerade um. Wenn ich das Thema Illustration vertiefen will, brauche ich entsprechendes digitales Werkzeug. Was wir planen, ist erneut ein Kinderbuch und es wird wieder ein inklusives Thema werden. Mehr können wir jetzt noch nicht verraten.
Das Gespräch führte Alexandra Knief.