Golden glänzende Buchstaben vor weißem Hintergrund formen sich zu "Brotlos", ordentlich gerahmt ist das Ganze auch. Der Betrachter ergänzt im Kopf sofort das Wort "Kunst", und das wird Christian Holtmann sicher recht sein. Dass es sich bei den Buchstaben um Gebäck der Sorte "Russisch Brot" handelt, und einem dazu aktuell noch etwas ganz anderes einfällt, konnte der Künstler nicht ahnen. Gleichzeitig zeigt es, wie weit die sich die Interpretationsspanne in der neuen Ausstellung im Zentrum für Künstlerpublikationen des Museums Weserburg dehnen kann.
Denn: Viele der ungefähr 50 ausgestellten Werke wollen mehr sein als nur die originelle Umsetzung der Idee, Schrift mit Skulptur zu vereinen. Der Titel der Schau lautet "Skulpturale Poesie", was schon beinahe furchteinflößend abgehoben klingt. Das sollte aber niemanden mit einem Faible dafür, wie hintersinnig die Verknüpfung von Sprache und bildender Kunst sein kann, davon abhalten, sich diese feine kleine Ausstellung anzuschauen. Die Kuratoren Bettina Brach vom Zentrum für Künstlerpublikationen und Christoph Benjamin Schulz, Literatur- und Kunstwissenschaftler aus Wuppertal, haben sie zusammengestellt. Viele Objekte haben ihren Ursprung in der experimentellen Poesie der 1960er und ihren Ausläufern.
Das Wort wird dabei erlöst aus seinem Schicksal, mit anderen Wörtern zusammen als Text zu dienen, aber auch aus der Flüchtigkeit des Sprechens und der Zweidimensionalität auf Papier. Und es wird gerne mal in seine Einzelteile zerlegt. Martin Kippenberger hat drei Buchstaben für das "Ende des Alphabets" wuchtig aus Gummi und Holz gestaltet: X, Y, Z. Hannah Regenberg untersucht in ihren Werken aus Gips die plastische Form von Buchstaben. Die können, gekippt oder gekappt, wie Deko-Artikel aussehen oder aber wie besonders unsinnige Designer-Möbel. Eduard Bals "Porträt des Monsieur K." ist eine Porträtbüste, für die der Künstler den Buchstaben K immer wieder und auf unterschiedliche Weise in das Material geprägt hat.
"Texttonne" und "Welt"-Schablone
Doch nicht nur Buchstaben werden auf ihre räumliche Wirkung hin abgeklopft; immer wieder geht es um Wörter oder Satzfetzen, die auch mal von Mausefallen festgehalten werden. Die Bedeutungsebene verschiebt sich hier naturgemäß stärker vom Abstrakten zu Konkreterem. So hat Andrea Tippel aus einem Blatt Papier schwungvoll das Wort "Welt" gestanzt - hängt man es in eine Fensterscheibe, sieht man einen Ausschnitt dessen, was sich draußen abspielt, durch eine "Welt"-Schablone. Vielleicht ist so tatsächlich etwas Neues im Gewohnten zu entdecken.
Als Foto mit dabei ist die "Texttonne" von Frans Mon: der Künstler, umrundet von Wörtern. Es sieht fast so aus, als sei es unmöglich für ihn, diesem Strudel zu entgehen. Kunstvoll zerlegt und ineinander gestapelt hat Dirk Bell "Love" (Liebe), das man auch rückwärts lesen kann als "evol" – da entwickelt sich noch etwas. Eine in braune Seife geprägte Drohung ist Shilpa Guptas "Threat", während Paul Ramirez Jones' "Breath"-Würfel per Bastelbogen aus dem Internet heruntergeladen, selbst gefertigt und unter Einsatz eigenen Atems aufgeblasen werden können. Wörter stehen für Zartheit wie der schwarze Aufdruck auf den weißen Seidenblumen von Takakao Saito. Oder sie entfalten Wucht wie die "Concrete Poetry" – ein wunderbarer Scherzkeks-Einfall von Timm Ulrichs, der die konkrete Poesie wortwörtlich in Beton gegossen hat (englisch: concrete).
Videos gibt es auch. "Public Punctuation of Pamplona Poem" von Alain Arias-Misson zeigt eine Aktion Anfang der 1970er-Jahre in der spanischen Stadt, bei der Menschen große weiße Satzzeichen durch die Gegend tragen. Francos Geheimpolizei machte dem ein Ende. Und wieder fühlt man sich an die Gegenwart erinnert, in der mutige Menschen in Moskau verhaftet werden, weil sie ein weißes Blatt Papier auf einem öffentlichen Platz hochhalten.