Angeregt unterhält sich eine Gruppe von Bewohnern in der Eingangshalle des Johanniterhauses. Einige stützen sich auf ihre Rollatoren, andere haben in der Sitzecke Platz genommen. Gleich daneben wirbt eine handgeschriebene Tafel für das nachmittägliche Kuchenangebot.
Nichts deutet darauf hin, dass sich das Pflegeheim in Horn gerade auf den Weg macht, die Altenpflege in Deutschland auf ein bislang unerreichtes Qualitätsniveau zu heben: Aus dem Haus wird in den kommenden Jahren ein akademisches Lehrpflegeheim werden, in dem ähnlich wie in einer Universitätsklinik Forschung, Lehre und Praxis eng miteinander verwoben sind. "Wir können dann neue Erkenntnisse zur Pflege direkt vor Ort, quasi am Bett des Bewohners umsetzen", verspricht sich Nadine Mahlstedt, die als Praxisanleiterin für die Aus- und Weiterbildung der Pflegekräfte zuständig ist, von der Neuerung. Auch bei neuen und komplexen Pflegefällen setzt sie auf unmittelbare Hilfe aus der Wissenschaft. "Zugleich können wir direkt an die Hochschulen zurückmelden, was im Alltag funktioniert und was nicht", erhofft sich Sabine Stubbe als Pflegedienstleitung.
Zwei weitere Häuser der Caritas in Bremen stehen ebenfalls in den Startlöchern, um zum akademischen Lehrbetrieb zu werden. Es ist ein bundesweit bislang einzigartiges Vorhaben, für das im kleinsten Bundesland die Universität, die Hochschule sowie die drei Pflegeeinrichtungen zusammengefunden haben. Angezettelt hat das Projekt Heinz Rothgang als Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen.
"Neue Erkenntnisse für die Pflege in die Praxis zu bringen, ist bislang ein schwieriges Unterfangen", sagt der Pflegewissenschaftler. Getestet werde stets unter Laborbedingungen oder man starte zeitlich begrenzte Praxisprojekte, wo die Pflegekräfte nach einem halben Jahr befragt werden, was die jeweilige Neuerung gebracht hat. "Belastbare Ergebnisse erhält man so kaum und langfristige Veränderungen meist auch nicht."
Arbeit für die Weiterentwicklung der Pflege soll neun Jahre dauern
Bei einem akademischen Lehrbetrieb dagegen gehe es darum, in einem Pflegeheim eine dauerhafte Infrastruktur für die Weiterentwicklung der Pflege aufzubauen. Um das zu erreichen, nehmen sich Rothgang und seine zahlreichen Mitstreiter volle neun Jahre Zeit. So lange wird das Vorhaben laufen. "Und so lange braucht man auch, um die Strukturen und Prozesse in einem Haus wirklich nachhaltig zu verändern."
Finanziert wird das Vorhaben mit 16 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium. Gleich drei Bremer Professoren, Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) und eine Pflegedienstleitung waren im vorigen Herbst nach Berlin gereist, um das Projekt vorzustellen. "Transferräume für die Zukunft von Regionen" lautet der Titel des Förderprogramms. "Da waren wir mit dem Pflegethema schon Exoten" sagt Rothgang. Bei den meisten Mitbewerbern ging es darum, Forschungsergebnisse aus den Hochschullaboren in die Industrie zu transportieren. Beim "Transfercluster Akademischer Lehrpflegeeinrichtungen in der Langzeitpflege (TCALL)" – so der offizielle Projektname – werden hingegen vorhandene Pflegeheime zu Laboren für die Wissenschaft.
Praktisch bedeutet das, es gibt in den drei Häusern zusätzliche Pflegekräfte, die allerdings an der Hochschule Bremen angestellt sind, bezahlt vom Forschungsgeld des Bundes. Sie sind gewissermaßen lebende Transferstellen. Mit Fortbildungen vor Ort werden sie wissenschaftliches Know-how aus der Hochschule ins Pflegeheim bringen. Eigens dafür werden auch spezielle Lehrräume in den Pflegeheimen eingerichtet. "Bislang muss man zusehen, wann mal ein Zimmer und ein Bett frei sind, um Pflegeabläufe und Handgriffe beispielhaft erläutern zu können", berichtet Praxisanleiterin Mahlstedt.
Parallel dazu erleben die Hochschul-Pfleger direkt in der Praxis, welche Hürden einer breiten Anwendung ihrer jüngsten Erkenntnisse möglicherweise entgegenstehen. Für die Wissenschaft wiederum der Hinweis, nach Lösungen zu forschen, um diese praktischen Hürden zu überwinden. So sollen die Lehrpflegeanstalten nach und nach zu Leuchttürmen optimaler stationärer Pflege werden, die Handreichungen und praxistaugliche Modelle für andere Häuser herausgeben.
Drei große Arbeitsfelder hat Rothgang dabei ausgemacht, etwa neue digitale Werkzeuge für die Pflegedokumentation. "Wenn man das gut macht, wird daraus ein praktisches Planungsinstrument für den Dienstplan", meint er. Zum Beispiel, weil der tatsächliche Pflegeaufwand für jeden Bewohner direkt sichtbar wird.
Die zweite Baustelle sollte nach seiner Ansicht die evidenzbasierte Pflege sein. Dabei steht im Vordergrund, nur Pflegemethoden anzuwenden, die tatsächlich helfen und wirken. "Klingt selbstverständlicher, als es in der Praxis oft ist", meint der Pflegeexperte. Altgediente Kräfte griffen zum Beispiel bei der Wundversorgung oder beim Umgang mit Demenz häufig noch immer auf längst überholtes Wissen zurück. "In einer Lehrpflegeanstalt ist das Bewusstsein dafür da, dass sich Medizin und Pflege ständig weiterentwickeln und die Infrastruktur, um praxistaugliche Umsetzungen auszuprobieren."
Das dickste Brett ist laut Rothgang ein kompetenzgerechtes Arbeiten. Das bedeutet, dass die Pflegekräfte entsprechend ihrer Ausbildung sowie ihres Know-hows eingesetzt werden. Auch das sei nicht selbstverständlich. "Weil häufig alle Mitarbeiter alles machen, ist Pflege manchmal einfach nur kräftezehrend und ineffizient." Hier gelte es, die Arbeitsprozesse neu zu organisieren. Auch das soll in den drei Bremer Lehrpflegeheimen beispielhaft vorgemacht werden.