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Klinikum Mitte in Bremen Die Not in der Notaufnahme

Die Pandemie, Personalausfälle, Fachkräftemangel und immer mehr Patienten setzten auch Bremens größter Notaufnahme am Klinikum Mitte zu. Bundesweit ist die Lage angespannt - was das bedeutet.
02.11.2022, 05:00 Uhr
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Die Not in der Notaufnahme
Von Sabine Doll

Judith Gal blickt auf den Monitor und geht die Notfälle durch: Ein Rettungshubschrauber wird gleich einen schwer verletzten Patienten aus Bremerhaven in die Zentrale Notaufnahme am Klinikum Bremen-Mitte bringen. "In einem Schockraum wird eine ältere Dame mit Schlaganfall behandelt. Sie hat außerdem Fieber, Verdacht auf eine Corona-Infektion", sagt die ärztliche Leiterin Bremens größter Notaufnahme. Vier Corona-positive Patienten sind in Behandlungszimmern isoliert. Auf dem Flur sitzt eine Patientin auf einem Klinikbett, sie hat sich das Bein verletzt und wurde geröntgt. "Sehr häufig haben wir Corona-Zufallsbefunde", erklärt Gal. "Die Patienten kommen aus einem anderen Grund und werden hier dann positiv getestet."

Sicherheitspersonal kontrolliert

Es herrscht Hochbetrieb an diesem Nachmittag in der Notaufnahme. Die Behandlungsräume sind größtenteils belegt. Und auch die freien Plätze im Wartebereich lassen sich an einer Hand abzählen. Vor den Schiebetüren zum Gebäude mit der Notaufnahme warten schon die nächsten Patienten. Einzeln oder mit Begleitung werden sie von Sicherheitspersonal eingelassen. Als erstes müssen sie einen Fragebogen zu Corona-Symptomen ausfüllen. Um die 50 Patienten befinden sich in diesem Moment im Notaufnahmebereich. "Das ist normal, auch für einen Wochentag", sagt Gal. "Es ist immer voll. Im Schnitt durchlaufen 120 bis 150 Patienten die Notaufnahme täglich. Seit Januar haben wir etwas mehr als 38.500 Menschen versorgt, zum Jahresende werden es wohl um die 43.000 sein. Eine Wahnsinnsleistung, die wir hier erbringen", betont die Ärztin.

Der ohnehin bestehende Fachkräftemangel und steigende Patientenzahlen setzen den Notaufnahmen seit Langem zu. Mehr als zweieinhalb Jahre Pandemie haben die Lage weiter verschärft. Auch Pflegekräfte und Ärzte bleiben nicht von Corona verschont, dazu kommen die Erschöpfung seit Pandemiebeginn und "ganz normale" krankheitsbedingte Ausfälle beim Personal. "Anfang 2021 habe ich noch gesagt, noch eine Infektionswelle schaffen wir nicht. Das ist jetzt fast zwei Jahre her. Im Moment haben wir so viele Corona-Patienten wie schon lange nicht mehr", sagt Gal.

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Bundesweit ist die Lage in den Notaufnahmen angespannt. Im Sommer hatte die Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) vor einer "Eskalation im Herbst" gewarnt: "Die permanente Überlastung gefährdet nicht nur die Gesundheit des Notaufnahmepersonals, sondern hat auch Auswirkungen auf die Patientensicherheit", sagte DGINA-Präsident Martin Pin. 67,5 Prozent der befragten Notfallkliniken berichteten im Juli von einer Überlastung bis hin zu "schwerwiegender" oder sogar "gefährlicher Überfüllung". Diese werde vor allem auch dadurch ausgelöst, dass Patienten von den Notaufnahmen nicht rasch genug auf Normal- oder Intensivstationen weiterverlegt werden könnten, weil dort Betten für die Notfälle fehlten. Betten müssen gesperrt werden, wenn Personal ausfällt oder anderweitig gebraucht wird – etwa für die aufwendige Versorgung von Corona-Patienten.

Nicht nur "echte" Notfälle

"60 Prozent der Patienten im Krankenhaus kommen über die Notaufnahme", sagt Gal. Nicht alle seien "echte" Notfälle. Ein großer Teil von ihnen wäre auch beim Hausarzt oder dem Ärztlichen Bereitschaftsdienst gut aufgehoben. Das ist keine neue Entwicklung. Allerdings setzt sie die Notaufnahmen in der aktuellen Situation zusätzlich unter Druck. In Bremen kommt hinzu: Die Notaufnahmen der Kliniken sind auch Anlaufstelle für Menschen aus dem niedersächsischen Umland.

Patienten, die in Eigenregie kommen, werden nach einer standardisierten Ersteinschätzung durch Fachpersonal Dringlichkeitsstufen zugeordnet: sofort, sehr dringend, dringend, weniger dringend und nicht dringend. Ihnen entsprechen die Farben Rot, Orange, Gelb, Grün und Blau. "Die grüne Gruppe macht mit etwa 50 Prozent den größten Anteil der Patienten aus, die in diesem Jahr bislang bei uns versorgt wurden", sagt Gal und zeigt auf ihre Statistik. Grün und Blau bedeuten in der Regel eine längere Wartezeit. Schwerverletzte, Schlaganfälle, Herzinfarkte, schwere Verletzungen und andere Notfälle gehen immer vor.

Die Bremer Ärztin sieht mehrere Ursachen, warum Menschen in die Notaufnahme kommen, obwohl sie besser im ambulanten System aufgehoben wären: Manchen sei der Ärztliche Bereitschaftsdienst und die Nummer 116 117 nicht bekannt, einige wollten vielleicht einfach schnell behandelt werden, manche hätten keinen Hausarzt. Was eine immer größere Rolle spiele: zunehmende Engpässe auch in Praxen, Aufnahmestopps bei Hausärzten, lange Wartezeiten auf Facharzttermine, sodass selbst Ärzte ihre Patienten zu einer Diagnostik ins Krankenhaus schickten.

Jetzt geht das System in die Knie, mit Ansage.
Judith Gal, Leiterin der Notaufnahme

"Der Fachkräftemangel fällt uns allen auf die Füße", sagt Gal. "Unser Gesundheitssystem ist qualitativ hochwertig, es wurde aber versäumt, an der richtigen Stelle zu investieren. Jetzt geht das System in die Knie, mit Ansage. Das ärgert mich. In Bremen haben wir noch nicht einmal eine Medizin-Uni; man kann sich als Bundesland nicht darauf ausruhen, dass andere Ärzte ausbilden." In den nächsten Jahren komme auf Krankenhäuser und Praxen eine große Ruhestandswelle zu. "Die Arbeitsbedingungen sind für viele junge Ärzte auch nicht mehr so attraktiv, das führt zusätzlich zu einer Abwanderung aus dem stationären System", stellt Gal fest.

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In der Notaufnahme am Klinikum Mitte sind an diesem Nachmittag zwei Bereiche wegen Personalmangels nicht in Betrieb – eine davon ist die Beobachtungsstation, wo Patienten eine gewisse Zeit stationär überwacht werden. "Die angespannte Lage verlangt dem Team viel ab", sagt Chefärztin Gal. "Die aktuelle Lage bedeutet maximale Flexibilität, Schichten schieben, einspringen und auch länger arbeiten. Alles natürlich im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes. Es gibt auch Unterbesetzung." Die Folgen seien längere Wartezeiten für nicht dringliche Fälle. Oder ein Gips werde beispielsweise nicht gleich nach dem Röntgen angelegt, sondern später.

"Kürzere Verschnaufpausen"

Von draußen ist der Rettungshubschrauber zu hören. Der schwer verletzte Patient aus Bremerhaven mit einem offenen Schädel-Hirn-Trauma wird gebracht, der Mann wurde von einem Auto angefahren. Sabine Pfaff ist Notfallkoordinatorin. Sie organisiert die Belegung der Behandlungs- und der vier Schockräume, übernimmt Patienten vom Rettungsdienst – wie gerade eine alte Dame mit Luftnot. "Wir haben gut zu tun, das ist in der Notaufnahme normal", sagt sie. "In letzter Zeit sind diese Phasen länger und die Verschnaufpausen kürzer."

Im Gang stehen die nächsten Rettungsdienst-Mitarbeiter mit Patienten bereit. Weitere Notfälle mit Verdacht auf Schlaganfall und Herzrhythmusstörungen sind angemeldet. Vor einem Behandlungszimmer telefoniert ein Pfleger nach einem Chirurgen, ein Patient hat sich bei einem Unfall mehrere Fingerglieder abgeschnitten. Der Wartebereich ist voll.

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