Nach gut 60 Jahren ist endgültig Feierabend: Jutta Scharnick wird ihre Apotheke mit dem verheißungsvollen Namen Fortuna Ende Dezember schließen. Im Oktober 1963 wurde sie von ihrem Vater Jürgen gegründet, die Tochter hat Anfang 2003 übernommen. Doch Ende vorigen Jahres war ihr klar, dass es nicht mehr weiter-geht: „Die Gesundheitspolitik der letzten Jahre hat zu dieser Entscheidung geführt.“ So können es die Kunden und alle anderen seit Wochen im Schaufenster lesen. Demnächst werden sie wohl in der Berliner Freiheit ihre Medikamente holen, denn einen Nachfolger hat Jutta Scharnick das ganze Jahr über nicht finden können – kein Einzelfall in Bremen.
Seit 2010 haben im Land 49 Apotheken geschlossen, davon neun in Bremerhaven und fünf in Bremen-Nord. Die Verbandsvorsitzende Christiane Lutter spricht von einem „unglaublichen Drive“, der bundesweit zu spüren sei. Aktuell gibt es gut 130 Apotheken. War Bremen womöglich überversorgt, findet nur eine Marktbereinigung statt? „Ende 2020 gab es 21 Apotheken pro 100.000 Einwohner in Bremen und Bremerhaven, damit liegen wir unter dem Bundesdurchschnitt von 23“, widerspricht Isabel Justus, Geschäftsführerin der Bremer Apothekerkammer.
Kritik an Krankenkassen
Neben handfesten finanziellen Gründen – „seit 20 Jahren gibt es keine Honoraranpassung“ – sind es vor allem Auflagen und Vorschriften, die Scharnick das Leben als Apotheken-Inhaberin vergällen: „Wir ersticken in Bürokratie und sind bloß noch Erfüllungsgehilfen der 96 Krankenkassen.“ Wegen derer ständig wechselnden Rabattverträgen mit den Pharmaherstellern verbringe sie mittlerweile mehr Zeit am PC als im Verkaufsraum, um Kunden zu beraten. „Das macht mir keine Freude mehr.“
Mit 58 kann und will sie sich aber nicht zur Ruhe setzen. Denn sie mag ihren Beruf und wird ihm auch treu bleiben – künftig als Angestellte einer befreundeten Apothekerin. Da müsse sie dann nicht mehr mit bürokratischen Monstern wie der Präqualifizierung kämpfen. Die wird alle fünf Jahre von niedergelassenen Apothekern verlangt, wenn diese auch Hilfsmittel wie Kompressionsstrümpfe, Nadeln für Insulin-Injektionen oder Blutdruckmessgeräte verkaufen wollen.
Scharnick holt eine prall gefüllte Klarsichthülle mit Dokumenten, die für die Präqualifizierung verlangt werden – unter anderem ein architektonischer Grundriss der Apotheke und eine Fotodokumentation der Inneneinrichtung. Nach rund 20 Monaten ist das erste von zwei „Zwischenaudits“ fällig, bis die nächste Präqualifizierung ansteht. Jedes Mal seien erneut Grundrisse, Fotos und diverse Nachweise vorzulegen.
Ein Entgegenkommen könne sie von der zuständigen Agentur nicht erwarten, sagt die Apothekerin. Obwohl sie zum Jahresende schließt und ihre letzte Präqualifizierung vom Januar 2022 stammt, bestand man im Herbst auf ein Zwischenaudit. Da Scharnick sich weigerte, darf sie seit Ende Oktober keine Kompressionsstrümpfe und dergleichen mehr verkaufen.
Ähnlich ärgerlich und bisweilen auch teuer ist für die Apotheken-Inhaber die sogenannte Retaxation. Dabei verweigern die Krankenkassen die Erstattung eines bereits durch die Apotheke an Patienten abgegebenen Arzneimittels. „Eingereichte Rezepte müssen sehr fein ausziselierten Formalien genügen“, erklärt Christiane Lutter. Für eine Retaxation reiche es manchmal schon, wenn der Vorname des Arztes nicht ausgeschrieben oder dessen Telefonnummer auf dem Stempel nicht lesbar sei – je nachdem, wie pingelig die von der Kasse beauftragten Prüfer seien. Gerne werde auch moniert, wenn der Arzt eine Dosierungsanleitung à la „3x täglich“ vergesse: Dann hafte jedoch nicht der Mediziner, sondern der Apotheker als Vertragspartner der Kassen.
„Deshalb scanne ich jetzt jedes Rezept gleich doppelt ein“, berichtet Fortuna-Inhaberin Scharnick. Bei ihr hielten sich die so entstandenen Verluste in Grenzen: „Zuletzt waren es 16,78 Euro für ein Rezept vom April.“ Denn die Kassen dürfen sich bei der Retaxation Zeit lassen, „ein halbes Jahr ist schon schnell“. Das heißt aber auch, dass Apotheken sehr lange Mittel verauslagen und auch bei sehr teuren Präparaten am Ende vielleicht nichts erstattet bekommen.
Das alles koste neben Geld auch viel Zeit und Nerven, klagt Scharnick. Wie überhaupt die Unmenge an Regeln und Vorgaben: Für ihren Fünf-Personen-Betrieb musste sie einen Datenschutz- und einen Sicherheitsbeauftragten benennen, zudem gebe es „ganz viele jährliche Pflichtschulungen“, etwa zu Hygiene oder Gefahrstoffen. Da werde auch bei der ältesten Mitarbeiterin, die seit 40 Jahren im Geschäft ist, keine Ausnahme gemacht.
So lange und teils noch länger kommen einige Kunden in den Flachbau an der Dietrich-Bonhoeffer-Straße. „Die stehen jetzt hier mit Tränen in den Augen“, berichtet die Apothekerin. Deren Betreuung war ihr immer wichtig, schon als sie in den 90er-Jahren nach dem Studium in Berlin-Kreuzberg in Deutschlands einzigem Apotheken-Kollektiv arbeitete. „Wir raten auch gerne ab“ sei dort das Motto gewesen: „Es ging nicht darum, möglichst viele Medikamente zu verkaufen.“

Schnäppchen für Nostalgiker: Die Apothekerin trennt sich auch von ihren traditionellen Gefäßen.
Ein Punkt, den auch Lutter anführt: „Apotheken bieten ganz niedrigschwellige medizinische Beratung durch akademisch ausgebildete Experten.“ Das sei in Zeiten abnehmenden Gesundheitswissens und überfüllter Wartezimmer nicht zu unterschätzen, denn: „Die Versorgung in den Praxen ist die teuerste, die wir haben.“
Der Fachkräftemangel, den viele Apotheken ebenfalls beklagen, ist für Scharnick und ihre Mitarbeiterinnen am Ende ein Vorteil: Sie finden sofort eine neue Anstellung, sofern sie wollen. Doch am Sonnabend, 30. Dezember, ist definitiv der letzte Öffnungstag der Fortuna-Apotheke. „Für Mitarbeiter, auch ehemalige, und treue Kunden gibt es Sekt, Häppchen und sicher auch ein paar Tränen“, verspricht Scharnick. Medikamente gebe es dann keine mehr: Die vielen hölzernen Schubladen, alle noch aus dem Gründungsjahr, bleiben für immer leer.