Nadine Brands Freitagabend bestand am 9. September bis 22:45 Uhr aus einer Sendung auf Netflix. Im Schlafanzug auf dem Sofa spürte sie dann ihre Wohnung hin und her schwanken, dazu großer Lärm von draußen. „Wir dachten zuerst an eine Gasexplosion, bis mein Mann rief, das ist ein Erdbeben“, erzählt die 38-Jährige. Sie hätten erst noch Schutz unterm Küchentisch gesucht, bevor sie vom vierten Stock ihres Wohnblocks in Marrakesch ins Freie flüchteten – so wie auch alle Nachbarn. „Ein großes Geschrei und Durcheinander, niemand wusste, was er tun sollte.“
Schwere Erdbeben in der Region sind selten, das letzte große Beben liegt über 60 Jahre zurück. Experten vergleichen den Gefährdungsgrad des südlich von Marrakesch liegende Atlasgebirges – dort lag das Epizentrum des Bebens – mit der Situation im deutschen Oberrheingraben mit gelegentlichen leichteren Erdverschiebungen ohne große Schäden. „Hier war niemand auf so eine Katastrophe vorbereitet“, sagt Brand.
Zwischen Bremen und Marokko gependelt

Nadine Brand, Bremerin in Marrakesch.
Seit sieben Jahren ist die Bremerin eine von knapp einer Million Einwohnern der viertgrößten marokkanischen Stadt. Sie arbeitet hauptsächlich als Übersetzerin und betreibt gemeinsam mit ihrem marokkanischen Ehemann eine kleine Reiseagentur. Für Touristen organisieren sie Touren in die Umgebung, vor allem in das bis zu 4000 Meter hohe Atlasgebirge. Das Unternehmen ist älter als die Ehe und wurde von Brand noch in Bremen gegründet. Vor zwölf Jahren war sie erstmals länger in dem westafrikanischen Land unterwegs und hat sich dann einige Zeit später mit der Reiseagentur selbstständig gemacht. „From Bremen to Morocco“ hieß die Firma anfangs. „Ich habe mehrere Jahre immer zwischen Bremen und Marokko gependelt, bevor ich dann 2016 ganz übergesiedelt bin.“
Aktuell tritt sie aber beruflich etwas kürzer, denn Brand ist derzeit hochschwanger und erwartet im Oktober ihren Nachwuchs. In dieser Lage verbringt sie wie viele andere zwei Nächte im Freien, aus Angst vor Nachbeben. Dabei schätzt sie ihre eigene Situation als relativ gut ein. „Uns ist nichts passiert und wir wohnen in einem Neubaugebiet, wo das Beben nur wenige Schäden hinterlassen hat.“ Weil es zudem noch viele unbebaute Grundstücke gibt, konnten sie auch nahe der Wohnung gefahrlos im Freien bleiben, ohne Angst vor angrenzenden einstürzenden Gebäuden. Dank ihrer Reiseagentur lag auch eine kleine Campingausrüstung mit aufblasbaren Matratzen griffbereit, die ihr Mann einige Stunden nach dem Beben aus der Wohnung holen konnte.
Andere hatten weniger Glück. Brand erreichten in den ersten 48 Stunden zahllose Whatsapp Nachrichten von marokkanischen Bekannten und der Familie ihres marokkanischen Mannes Omar Chibat, die von toten Nachbarn und zerstörten Häusern berichteten. „Irgendwann habe ich das Handy ausgeschaltet, ich konnte das nicht mehr ertragen.“
Inzwischen hat sie sich wieder gesammelt und konnte auch in die Wohnung zurückkehren. Jetzt richtet sie ihren Blick auf schwerer Betroffene, vor allem im Atlasgebirge, wo sie aufgrund ihrer langjährig angebotenen Touren zahlreiche Kontakte hat. „Da liegt das Epizentrum, da sind zahlreiche Dörfer komplett zerstört mit vielen Toten, die auch jetzt noch unter den Trümmern liegen“, sagt sie. Zudem seien die Bewohner des Gebirges vor allem Berber, die in Marokko vielfach diskriminiert würden. „Von offizieller Seite passiert da derzeit nicht viel“, meint Brand. Und internationale Hilfsorganisationen seien auch kaum vor Ort.
Dass die marokkanische Regierung eher verhalten auf die Hilfsangebote aus Europa reagiert, sieht sie kritisch. Das liege mutmaßlich an dem Konflikt um die Westsahara. „Wer da nicht auf der Seite Marokkos steht, wird nicht akzeptiert“, meint Brand. Seit Jahrzehnten ringen eine Unabhängigkeitsbewegung und Marokko mehr oder weniger gewaltsam um den Status der Region, die größer als Großbritannien ist. Marokko sieht sie als Teil seines Staatsgebiets, während die dort lebenden rund eine halbe Million sogenannten Sarauhris einen eigenen Staat ausgerufen haben. Einige EU-Staaten, darunter Deutschland, erkennen die Souveränität Marokkos über die Westsahara nicht an. In Bremen wehte am 40. Jahrestag der Gründung der Demokratischen Arabischen Republik Sahara 2016 sogar die schwarz-weiß-grüne Flagge mit dem Dreieck, dem Stern und dem Halbmond am Haus der Bürgerschaft.
„Aber den Menschen muss geholfen werden, das ist jetzt nicht die Zeit für Politik“, findet Brand. Über das Internetportal Gofundme hat sie kurzerhand einen eigenen Spendenaufruf gestartet und in kurzer Zeit fast 5000 Euro eingesammelt. „Vor allem Marokkaner, die in Europa und USA leben, haben gespendet“, berichtet sie. Aus eigener Tasche haben sie und ihr Mann schon zuvor in Hilfsgüter investiert. „Wir haben Lebensmittel in die Dörfer transportiert und Winterjacken von Secondhand-Händlern hier in Marrakesch gekauft.“
Der Winter stehe bevor. In den zum Teil im Hochgebirge in weit über 1000 Meter Höhe gelegenen Dörfern sind Minusgrade dann der Normalfall. Auch die ersten zehn großen Wohnzelte als Notunterkünfte haben sie bereits bei einer örtlichen Schneiderei in Auftrag gegeben. „Die rüsten sonst Sahara-Camps aus. Die wissen, wie robuste Zelte gemacht werden“, sagt Brand. Das Spendengeld in die mittelständische Wirtschaft und das Handwerk vor Ort zu stecken, sieht sie als zusätzlichen Nutzen. „Das geht am Ende sogar schneller, als solche Zelte aus Europa zu besorgen.“

Folgen des Erdbebens in Marrakesch: Ganze Häuserzeilen sind zerstört.