Die Schrecken des Bombenkriegs können noch nicht lange vorbei gewesen sein, als der Kinderarzt Hans Feldmann ein Versprechen einlöste. Im Bunker an der Uhlandstraße hatte der damals 57-Jährige hautnah miterlebt, wie sehr die Kinder unter den ständigen Luftangriffen litten. Und wie sehr sie sich in den langen Bunkernächten langweilten, die Zeit zwischen Alarm und Entwarnung wollte einfach nicht vergehen. Seine Idee, um den Kindern ein wenig Abwechslung zu bieten: die Aufführung eines Kasperlestücks. Nicht im viel zu engen Bunker, sondern in seiner Praxis am Fedelhören 49. „Drum hatt‘ ich mir einst gedacht“, reimte Feldmann in seinem Einladungsgedicht, „daß es Euch wohl eine Freude macht, hin zum Fedelhör‘n zu gehn und ein Märchenspiel zu sehn.“
Die maschinenschriftliche Einladung hat Hildegard Linn über all die Jahre sorgsam aufbewahrt. Die heute 84-Jährige gehört zu jenen jungen Bunkerinsassen, die der Freizeitlyriker in seinem Poem unter ihrem Mädchennamen Hahn namentlich erwähnt. „Helga Mommertz strickte tüchtig, Hilde Hahn erzählte wichtig“, heißt es da. Das kleine Theaterstück führte der Mediziner dann auch tatsächlich auf. Allerdings später als geplant, erst irgendwann kurz nach Kriegsende. An das genaue Datum kann sich Linn nicht mehr erinnern, auf der tadellos erhaltenen Einladung steht nur: „Was ich damals Euch versprach, hole ich jetzt endlich nach“ und zwar am „Sonnabend um 17 Uhr“. Linn meint, das Stück müsse „eher 1945 als 1946“ über die improvisierte Bühne in der Kinderarztpraxis gegangen sein.

Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen: Hildegard Linn 1946.
Dass Feldmann sich der Kinder so liebevoll annahm, rechnet sie ihm rückblickend hoch an. „Damit hat er uns so eine große Freude gemacht in diesen schweren Jahren.“ Mit Methoden der Traumabewältigung konnte Linn früher wenig anfangen. Sie sei skeptisch gewesen, sagt sie. „Was soll das bringen?“, habe sie gedacht. Doch dann habe sie einsehen müssen, dass belastende Erinnerungen sich weit mehr ins Unterbewusstsein einprägen, als sie je für möglich gehalten habe. Erst bei einem Dänemark-Urlaub, als Düsenjets über sie hinwegdonnerten und den Bombenkrieg wieder ins Gedächtnis riefen. Und später in ihrer neuen Heimat in Bayern, als sie am Ammersee zufällig Zeugin eines Panzermanövers wurde. „Da stand ich am Straßenrand und heulte“, sagt Linn. Ihre damals dreijährige Tochter habe beunruhigt ausgerufen: „Mama, was hast du denn?“
Für sie selbst war im gleichen Alter der Krieg bittere Realität. Die Bunkererlebnisse stehen der 84-Jährigen noch klar vor Augen, als Kind habe sie die Aufenthalte und das Drumherum „sehr, sehr bewusst erlebt“. In ihrem Elternhaus an der Uhlandstraße habe immer alles bereitgestanden für den nächsten Alarm – die Schuhe am Bett, der Rucksack mit dem Nötigsten. „Man lebte wie auf der Flucht“, sagt sie. Ihre Mutter habe später berichtet, wie erstaunlich gut sie als kleines Kind funktioniert habe. Klaglos erledigte das Mädchen, was von ihr verlangt wurde. Und im Bunker erzählte sie dann wichtig, wie der Kinderarzt mitteilte. Das kann man putzig finden, ein neunmalkluges Mädchen. Oder als ihre Art sehen, mit einer extremen Stresssituation umzugehen.
Wie belastend das Bunkerdasein war, geht schon aus den ersten Zeilen des Feldmann-Gedichts hervor. „Einst, als die Sirenen heulten, und wir rasch zum Bunker eilten, ach, da gab es nichts zu spassen, wenn wir so beisammen sassen.“ Den Kindern fiel es ausgesprochen schwer, stundenlang Ruhe zu geben. „Auf dem Luftschutzbett dort oben fingen sie bald an zu toben“, konstatiert Feldmann. Besonders die Jungen waren offenbar schwer zu bändigen: „Manfred Osthus, keck und munter, purzelt öfter mal herunter.“ Wie dünn das Nervenkostüm der Erwachsenen in der klaustrophobischen Bunkeratmosphäre war, lässt sich aus den Drohungen einer Nachbarin ermessen: „Und oft rief Frau Stradtmann strenge: ‚Detmar, gleich bekommst du Senge!“

Hildegard Linn heute
Für die kleine Hilde wurde der Krieg noch aus einem ganz anderen Grund zu einer harten Belastungsprobe. Ihr Vater war bei der Luftwaffe, in den letzten Kriegswochen kam er bei einem Flugzeugabsturz über Polen ums Leben, sie wuchs als Halbwaise auf. Ihre Mutter musste sich jetzt mit drei Kindern allein durchschlagen, ein tiefer Einschnitt für die Tochter aus wohlhabender Kaufmannsfamilie. „Meine Mutter hat nach dem Krieg im Hotel Columbus und in einer Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet“, berichtet Hilde Linn. Zwischenzeitlich habe sie mit dem Gedanken gespielt, in die USA auszuwandern. Sie habe sich dann aber doch nicht dazu entschließen können, das erst in den Kriegsjahren erworbene, schwer beschädigte Haus zu verkaufen.
Dagegen strebte Linn weg aus Bremen. „Ich war immer eher ein Rebell“, sagt sie. Als 18-Jährige heiratete sie 1958 und lebt seither in Bayern. Die Freude am Kasperletheater blieb bestehen, noch heute hütet sie fünf Puppen aus der Böttcherstraße. Mit einer Freundin führte sie Stücke in einem selbst gebauten Theater auf. Die Hoffnung, dass blutige Waffengänge einmal der Vergangenheit angehören werden, hat sie nicht zuletzt angesichts des Ukrainekriegs aufgegeben. „Die Menschen werden nie lernen, dass der Krieg nur Zerstörungen bringt.“