Als der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 für Deutschland ein Ende fand, war Reinald Ihler zwölf Jahre alt. Durch Kinderlandverschickungen hatten er und seine Schwester schon einige Jahre außerhalb Bremens zugebracht. Im Februar 1945 beschloss der Vater, seinen Sohn Reinald wegen der heftigen Luftangriffe auf Bremen nach Wilstedt in Sicherheit zu bringen, wo seine Schwester schon einige Zeit lebte. Am 10. April 1945 wollte die Mutter ihre Kinder besuchen. Auf der Fahrt mit der Kleinbahn „Jan Reiners“ von Bremen nach Tarmstedt wurde sie jedoch bei einem Fliegerangriff auf den Zug tödlich getroffen.
Die Briten marschierten am 26. April 1945 in Bremen ein und beendeten die Zeit des Nationalsozialismus. Schon bald darauf, am 20. Mai, wurde Bremen zur US-amerikanischen Enklave. „Bald nach Kriegsende kehrte ich mit Vater und Schwester nach Bremen zurück. Das Haus in der Scharnhorststraße, in dem wir unsere Wohnung hatten, war vom amerikanischen Militär beschlagnahmt. Dort wohnten jetzt Unteroffiziere und Mannschaftsdienstgrade. Nach vier Monaten durften wir erst wieder in unsere Wohnung“, schreibt er in seinen unveröffentlichten Lebenserinnerungen. Bis dahin kamen der Vater und die beiden Kinder in der nahe gelegenen Buchenstraße unter, wo die Großeltern eine Bäckerei betrieben. Im Dezember 1945 begann auch endlich wieder der Schulbetrieb in Bremen. Diese Zeit hat Ihlers Jugend geprägt.
Als Caddie im Country Club
Und was war das für eine Zeit? Bremen lag in Trümmern, die Lebensmittel waren knapp und rationiert, es gab Schulspeisungen und Schulausfälle wegen Kohlemangel. Die Amerikaner als Besatzungsmacht begannen sich einzurichten. Sie hatten über 600 Häuser beschlagnahmt, entfalteten viele Freizeitaktivitäten, ließen zum Teil ihre Familien nach Bremen nachziehen.
„Viele Straßen Schwachhausens wurden ganz oder teilweise in Beschlag genommen, auch um unsere Wohnung herum waren einige Nebenstraßen mit Stacheldraht abgesperrt und bildeten ein amerikanisches Viertel. Die amerikanischen Soldaten waren recht freundlich und wir Kinder bekamen häufig Schokolade und Kaugummi zugesteckt – meistens von den farbigen Soldaten“, erzählte Ihler ein knappes Jahr vor seinem Tod im Juli 2016.
Aber das reichte Reinald Ihler nicht. Ganz in der Nähe der elterlichen Wohnung hatten die Amerikaner 1945 den ehrwürdigen „Club zur Vahr“ an der damaligen Vahrer Straße zum „Country Club“ gemacht. Doch der Krieg war nicht spurlos am Clubgelände vorübergezogen, denn dort war von 1940 bis 1945 eine Tierrettungsstelle untergebracht. Zudem hatten zahlreiche Bombenabwürfe tiefe Krater auf dem Golfkurs hinterlassen. Da kamen die „Amis“ mit schwerem Gerät und machten den 9-Loch-Golfplatz wieder fit.
Auf dem wiederhergerichteten Golfplatz machten sich die Jungs als Träger der Schlägertaschen nützlich. Entlohnt wurden sie mit der damals härtesten Währung: Zigaretten. „In der freien Zeit war ich besonders oft mit meinen Freunden im Country Club, wo wir als Caddies unser erstes Taschengeld in Form von Camels oder Lucky Strikes bei den golfenden Amis verdienten“, berichtete Reinald Ihler. „Nachmittags standen dann häufig die Schwarzhändler vor dem Clubgelände und kauften uns die Zigaretten ab – für eine Zigarette gab es fünf Reichsmark.“
Für den jungen Ihler war das ein lukratives Geschäft. „Die meisten Golfer hatten ihre festen Caddies – so auch mich. Ich wusste genau, welche Schläger sie gerade brauchten. Ins Clubhaus durften wir jedoch nicht. Trotz vieler kriegs- und nachkriegsbedingter Schulausfälle hatte ich genügend Englischkenntnisse, um mich mit den Amis zu verständigen. Ende 1948 musste ich aufhören – auf Druck meines Vaters wegen der Schule. 1952 wurde das Golfgelände endgültig wieder dem Verein zurückgegeben.“
Im Bremen Boys Club
Doch das Caddie-Dasein war noch längst nicht alles, schon bald machten die Amerikaner durch Freizeitangebote für deutsche Kinder und Jugendliche von sich reden. „Und plötzlich ging es wie ein Lauffeuer unter uns Jungen um“, erinnert sich Ihler. „Die Amerikaner gründen einen ‚Bremen Boys Club‘.“ Nach einem von Sergeant Patrick Moriarty initiierten Plakataufruf im August 1946 meldeten sich über 2500 Jugendliche im Alter von zehn bis 17 Jahren. 100 wurden in der ersten Phase ausgewählt. Ziel war es, die Bremer Jugend von der Straße zu holen und ihnen demokratische Werte zu vermitteln. Sergeant Moriarty wird bei seinem Vorhaben von der von den Amerikanern in ihren Besatzungszonen geplanten und ausgeführten demokratischen Umerziehungsarbeit „Reeducation“ beeinflusst gewesen sein.
Der erste Club residierte in einem beschlagnahmten Haus an der Slevogtstraße 17. Von der Bremer Gründung berichtete das "Life Magazine" im Dezember 1946. Bald waren es über 40 Jugendclubs, von denen jeder mindestens 80 Mitglieder hatte. Die Amerikaner übernahmen das Programm in der gesamten amerikanischen Zone unter dem Namen „German Youth Activities“ (GYA) und stellten beträchtliche Geldmittel bereit. Im Laufe der Jahre zogen die Amerikaner jedoch nach und nach aus Bremen ab und reduzierten damit auch die finanzielle Unterstützung. Da der Bremer Staat nicht in vollem Umfang einspringen konnte, lösten sich 1950/51 viele der Gruppen auf. 1953 wurde das GYA-Programm in Bremen eingestellt, lediglich in der Vahr führte man es noch bis 1955 fort.
„Ich war sofort dabei, als 1946 im Café Goedeken in Horn ein GYA-Heim eingerichtet wurde. Da war immer etwas los. Wir hatten eine Selbstverwaltung, es gab Sport- und sonstige Veranstaltungen. Anfang 1947 war ich auch mehrmals in der Slevogtstraße zu Gast. Dort gab es alle drei Wochen Tanzabende mit Mädchen. Wie man so hörte, waren die Jungen aber kaum auf die Tanzfläche zu kriegen. Die tranken lieber die kostenlos angebotene Coca Cola (die übrigens ab Dezember 1945 sogar in Bremen abgefüllt wurde) und hörten lieber Jazz- und Swing-Schallplatten, wie Hey-Ba-Ba-Re-Bop von Lionel Hampton.“
Das gute Beispiel wirkte, der junge Ihler tat es den Amerikanern gleich. Gemeinsam mit Freunden gründete er im Sommer 1949 den „Astoria Club“ – sogar mit amtlicher Genehmigung der Militärregierung. „Wie ich auf diesen Namen kam? Das weiß ich heute selber nicht mehr“, sagt er. „Für uns Jungs klang das wohl einfach schick und amerikanisch.“ Womöglich inspirierte ihn aber auch das gleichnamige Varieté. Bis 1944 hatte es für Stimmung gesorgt und nahm im Oktober 1950 seinen Betrieb wieder auf.
Doch was geschah denn nun eigentlich im „Astoria Club“? Zunächst einmal hatten die Halbwüchsigen ziemlich viel mit ihrer Selbstverwaltung zu tun. Eine ungewohnte Übung nach den Jahren des NS-Regimes: Eine Satzung musste erstellt und Wahlen abgehalten werden – alles wie in einem richtigen Verein. Die Clubmitglieder spielten Tischtennis, bastelten und lasen amerikanische Bücher.
Die US-Army hatte immer ein offenes Ohr für den Nachwuchs, organisierte auch schon mal eine Freizeit. „Einmal fragte uns ein betreuender US-Soldat, ob wir wohl mal ein Wochenende in Weddewarden verbringen möchten“, erinnert sich Ihler. Mal raus aus der Stadt und an die Küste in den Stadtteil von Bremerhaven? Da ließen sich die Astoria-Mitglieder nicht lange bitten. „Zum Termin standen genügend Lastwagen bereit und bald saßen wir auf den Bänken der Ladefläche. Die ganze Reise hat uns keinen Pfennig gekostet.“ Freilich erwies sich der „Astoria Club“ als ziemlich kurzlebig. „1950 war für mich damit Schluss“, so Ihler. „Ich musste mich voll und ganz auf die Schule konzentrieren.“