Wer mit wem? Die Bürgerschaftswahl am 14. Mai liegt zwar noch drei Monate in der Zukunft, doch das hindert die politische Szene natürlich nicht an Überlegungen zu möglichen künftigen Regierungskonstellationen. In den Gesprächen taucht dabei auch ein Szenario auf, das vor vier Jahren noch undenkbar war – eine Neuauflage der Großen Koalition, die den Stadtstaat von 1995 bis 2007 regierte.
Rückblende, Frühjahr 2019. Der Wahlkampf der Sozialdemokraten läuft mehr schlecht als recht, CDU-Spitzenkandidat Carsten Meyer-Heder zieht in Umfragen an Bürgermeister Carsten Sieling vorbei. In einem bemerkenswerten Kurswechsel beschließt der SPD-Landesvorstand wenige Tage vor der Wahl, dass es nach dem Urnengang keine Sondierungsgespräche mit den Christdemokraten geben werde. Die CDU wolle "ein anderes Bremen", so Sieling damals. Die SPD strebe dagegen ein Bündnis "links der Mitte" an. Erstmals rückte damit eine Regierungsbeteiligung der Linken in den Bereich des Möglichen. Wenig später wurde sie Realität.
Knappe 100 Tage vor der nächsten Wahl sind solche schroffen Absagen an jedwede Zusammenarbeit mit den Christdemokraten nicht zu hören. Das hat zum einen mit dem neu erlangten Selbstbewusstsein der Genossen zu tun. Auch wenn die letzten Umfragen zum politischen Stimmungsbild in Bremen nicht mehr ganz taufrisch sind, so sagten sie doch übereinstimmend ein Plus für die Sozialdemokraten voraus. Und tatsächlich gibt es in ihren Reihen kaum jemanden, der an der Erreichbarkeit des Wahlziels "Stärkste politische Kraft" zweifelt. Bürgermeister Andreas Bovenschulte werde es für die Partei schon richten, so die allgemeine Überzeugung. 30 Prozent seien drin für die SPD.
Zudem hat sich in der zu Ende gehenden Legislaturperiode einiges aufgestaut zwischen SPD und Grünen. Deren Spitzenkandidatin – Verkehrssenatorin Maike Schaefer – geht den Genossen in Fraktion und Senat gehörig auf den Geist. Das fängt an mit dem Streit um den ÖPNV-Knoten Domsheide, setzt sich fort mit dem als unglücklich empfundenen Verkehrsversuch in der Martinistraße und hört mit dem Zurückdrängen innerstädtischer Kfz-Stellflächen noch lange nicht auf.
Auch auf wirtschaftspolitischem Gebiet fremdeln viele Genossen mit dem bisherigen Bündnispartner. "Es gibt bei denen kaum jemanden, mit dem man ernsthaft über Standortentwicklung sprechen kann", beklagt ein tonangebender Sozialdemokrat. "Da ist einfach kein Sensus für dieses Thema. Die Grünen meinen, Wirtschaft entwickelt sich von selbst." In unguter Erinnerung ist den Fachpolitikern der Fraktion noch der quälend lange Streit um die Gewerbeflächenplanung. Die Grünen stellten sich energisch dagegen, größere neue Firmenareale aus dem Boden zu stampfen. Betriebsansiedlungen müssten vorzugsweise auf verwaisten und recycelten Gewerbegrundstücken erfolgen. Mit dieser Haltung setzten sich die Grünen weitestgehend durch.
Nicht zu unterschätzen ist nach Einschätzung von Insidern auch die jüngste Entfremdung zwischen SPD und Grünen auf Bundesebene, Stichwort Ukraine. Zwar folgen die Sozialdemokraten der Linie der Bundesregierung, das angegriffene Land auch mit Waffenlieferungen gegen die russischen Aggressoren zu unterstützen. Aber viele von ihnen tun dies eher widerwillig, anders als die Grünen. "Da geht es um Differenzen in politisch-moralischen Grundsatzfragen, und das ist Säure für unsere Beziehung zu den Grünen", warnt ein einflussreicher Genosse.
Während also das Verhältnis der SPD zu den Grünen belastet erscheint, hat es sich gegenüber der CDU entkrampft. Das geht nicht zuletzt auf personelle Veränderungen zurück. So hat sich etwa mit dem früheren Fraktionschef und heutigen Bundestagsabgeordneten Thomas Röwekamp der vehementeste SPD-Gegner aus der Landespolitik verabschiedet. Auch Haushälter Jens Eckhoff – den Sozialdemokraten in langjähriger, nicht minder inniger Abneigung verbunden – bekreuzigt sich nicht mehr, wenn von den Genossen die Rede ist.
Die Christdemokraten wiederum scheinen erkannt zu haben, dass sie der Machtoption einer schwarz-grünen beziehungsweise Jamaika-Koalition kein Stück näher gekommen sind, obwohl sie sich streckenweise bis zur Selbstverleugnung bei den Grünen anbiederten. Etwa in der Verkehrspolitik, wo man die Autofeindlichkeit des Wunschpartners gern unkommentiert ließ, ja fast schon übernahm, sodass sich mancher Schwachhauser SUV-Besitzer zwischenzeitlich fragen mochte, ob die CDU noch seine Partei ist. Letztlich hat sich der Schmusekurs nicht ausgezahlt. Als die Grünen nach der Wahl 2019 auch mit dem eigentlichen Sieger CDU sondierten und dabei keine ernsthaften Hindernisse für ein Jamaika-Bündnis feststellen konnten, platzten die christdemokratischen Blütenträume doch kurze Zeit später. Denn kein Spitzen-Grüner traute sich, der eigenen linksorientierten Parteibasis einen solchen Pakt auch nur ernsthaft vorzuschlagen. Vor dem Hintergrund dieser deprimierenden Erfahrung können sich inzwischen wieder mehr Christdemokraten mit einer Juniorpartnerschaft in einer rot-schwarzen Koalition anfreunden.
Ob eine solche Konstellation nach dem 14. Mai in den Bereich des Möglichen rückt, hängt natürlich entscheidend vom Wahlausgang ab. Die maßgebenden Sozialdemokraten in Partei und Fraktion tendieren wohl eher zu Rot-Grün, wenn es dafür denn reicht. Sie hätten Rot-Schwarz aber gern als alternative Option in der Hinterhand. Für den Fall nämlich, dass die klima- und verkehrspolitischen Fundamentalisten in der Reihen der Grünen ihre Forderungen überziehen. Die Sozialdemokraten wären dann in der Lage zu sagen: Wir können auch anders. Und wir meinen das ernst.
Die größte Gefahr sehen die SPD-Strategen derzeit in einem Wahlergebnis, bei dem die Sozialdemokraten zwar stärkste Partei werden, die Grünen aber knapp vor der CDU landen. Grün-Schwarz beziehungsweise Jamaika wäre dann in der Bürgerschaft womöglich stärker als Rot-Dunkelrot. Einige Spitzengenossen trauen den Grünen durchaus zu, in einem solchen Fall die Hand nach der Macht im Rathaus auszustrecken. Um ein solches Schreckensszenario abzuwenden, wären die Sozialdemokraten sicher ebenfalls bereit, der CDU ein Angebot zu machen. An die Christdemokraten würde man dann die Frage richten: Seid ihr euch nicht zu schade, Steigbügelhalter der Grünen zu sein, wenn es mit uns doch deutlich mehr inhaltliche Gemeinsamkeiten gibt?
Eine rot-schwarze Koalition nach der Wahl, so viel lässt sich derzeit sagen, ist kein Hirngespinst mehr. Sie könnte sich schlicht ergeben – durch das Wahlergebnis, durch die Dynamik der Nach-Wahl-Tage, auch als Notlösung. Rot-Schwarz ist nicht die wahrscheinlichste Konstellation für die kommenden vier Jahre. Aber eine reale Möglichkeit.