Wird in der Bremischen Bürgerschaft auch mal gelogen? In anderen Parlamenten soll das schon vorgekommen sein. In der Bürgerschaft verhält es sich so: Man kann dort zwar lügen. Aber andere Abgeordnete dürfen dem Redner das nicht mehr vorhalten. Jedenfalls sind Formulierungen wie "Das ist gelogen!" oder gar "Sie sind ein Lügner!" seit einigen Monaten nicht mehr gestattet. Sie können einen Ordnungsruf des Präsidiums nach sich ziehen.
Dieser Beschluss des Bürgerschaftsvorstandes aus dem Oktober vergangenen Jahres steht beispielhaft für einen Wandel der Debattenkultur im Hohen Haus am Marktplatz. Der Eindruck vieler Parlamentarier: Präsidentin Antje Grotheer (SPD) hat die Zügel straffer gezogen – zu straff, wie selbst manche ihrer Parteifreunde meinen. Öffentlich sagt das niemand, denn man will das Präsidium als Institution nicht beschädigen. Aber der Stil der Sitzungsleitung und die Frage, wie hoch die Schwelle für einen Ordnungsruf und sonstige Sanktionen gegen Abgeordnete sein sollte, wird im nächsten Monat den Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschuss der Bürgerschaft beschäftigen. Die Fraktionsspitzen haben Redebedarf zu diesem Thema angemeldet, und schon das ist ein außergewöhnlicher Vorgang.
Dass ein anderer Wind weht, bekam zu Beginn der Legislaturperiode zuerst Jan Timke zu spüren. Der Fraktionschef von Bündnis Deutschland (BD) ist ein altgedienter Parlamentarier. Seit fast 16 Jahren gehört der Bremerhavener dem Landtag an, die meiste Zeit als Einzelkämpfer für die im BD aufgegangene Wählervereinigung "Bürger in Wut". Timke ist der Typ Redner, der sehr entschieden in der Sache auftritt, durchaus konfrontativ gegenüber den Parteien links der Mitte, aber nicht beleidigend. Entsprechend wenig Erfahrung hatte er mit Interventionen des Präsidiums während seiner Reden. Das sollte sich am 5. Juli 2023 drastisch ändern. Als sich Timke in der Debatte zur Wahl des neuen Senats an den Linken abarbeitete, grätschte Antje Grotheer dazwischen und forderte ihn auf, "zur Sache" zu sprechen. Eine solche Intervention ist nach der Geschäftsordnung der Bürgerschaft möglich, wenn ein Redner zu weit abschweift. Dieser sogenannte "Sachruf" ist das Äquivalent zum Ordnungsruf, der verhängt wird, wenn gegen Würde und Ordnung des Hauses verstoßen wurde. Ein "Sachruf" kommt indes sehr selten vor – ob die Ausführungen eines Abgeordneten noch einen Bezug zum Tagesordnungspunkt haben, ist schließlich kaum objektiv zu beurteilen.
Schnell schaukelte sich der Konflikt zwischen Timke und Grotheer weiter auf. Timke widmete sich weiter den Linken, Grotheer rief ihn ein zweites Mal zur Sache und entzog ihm schließlich das Wort. Eine solch massive Sanktion hatte es in der Bürgerschaft zuvor jahrelang nicht gegeben. Selbst manche Abgeordnete der Koalition waren irritiert: Sollte Timke seine 20 Minuten Redezeit doch für Linken-Schelte draufgehen lassen – wen kümmert's?
Der Frontalcrash mit dem BD-Fraktionschef blieb nicht die einzige umstrittene Aktion der Präsidentin. Mitte November rügte sie den SPD-Fraktionsvorsitzenden Mustafa Güngör, als dieser die CDU-Abgeordneten als "verantwortungslose Gesellen" bezeichnete. Nach Grotheers Empfinden gemahnte diese Formulierung zu sehr an die "vaterlandslosen Gesellen". Eine Beleidigung, die zu Kaisers Zeiten auf die Sozialdemokraten gemünzt war. Doch diese Assoziation war nach allgemeinem Empfinden arg weit hergeholt. In den Reihen der Koalition, aber auch darüber hinaus gab es dafür wenig Verständnis.
Antje Grotheer ist sich nach eigenen Worten darüber im Klaren, bei der Sitzungsleitung "auf einem schmalen Grat" zu wandeln. "Es gibt auch Stimmen, die fordern, ich möge noch früher einschreiten", sagt die Sozialdemokratin. Nach ihrer Wahrnehmung geht es in der aktuellen Bürgerschaft insgesamt unruhiger und bisweilen auch aggressiver zu als in zurückliegenden Legislaturperioden. Das betreffe nicht nur Zwischenrufe während laufender Reden, sondern auch verbales Geplänkel zwischen den Fraktionsbänken von Koalition und Opposition. "Die Fähigkeit, andere Haltungen zu ertragen, hat abgenommen", will Grotheer beobachtet haben. Die Frage, die sie und ihre beiden Stellvertreterinnen jeweils individuell beantworten müssten, laute: "Wie viel Aufheizen der Situation lassen wir zu?"
Grotheer scheint diese Frage für sich relativ klar beantwortet zu haben. Sie bremst die Emotionen lieber zu früh als zu spät. Die Hitliste der Ordnungsrufe führt derzeit übrigens Linken-Vertreter Dariush Hassanpour an. In der November-Sitzung bescheinigte er den Vertretern von Bündnis Deutschland, ihr Horizont reiche "von der Facebook-Page bis zum Stammtisch bei 2.0 Promille". Dafür gab es ebenso einen Ordnungsruf wie für seine auf die CDU zielende Feststellung: "Vor einigen Jahrzehnten haben Leute mit Bomberjacke und Springerstiefeln ,Ausländer raus!' skandiert, heute zieht man sich Anzüge an und verpackt die Message in verschnörkelten Anträgen."
Beides war gewiss unsachlich, polemisch, vielleicht sogar unverschämt. Aber muss man so etwas formell rügen? Leidet der gute Ruf des Parlaments tatsächlich, wenn Abgeordnete mal verbal über die Stränge schlagen? Gewiss, es muss unverrückbare Leitplanken für die politische Auseinandersetzung geben, schließlich haben die Abgeordneten eine Vorbildfunktion. Persönliche Herabwürdigung, Aufrufe zu Straftaten, Hass und Hetze sollten in der Bürgerschaft keinen Raum haben. Doch wegen kleiner verbaler Rempler und Gemeinheiten muss man nicht gleich Katastrophenalarm auslösen. Die polemische Zuspitzung kann manchmal das Salz in der Suppe sein. Sie kann deutlich machen, worum es in einem Konflikt eigentlich geht. Blutleeres Technokraten-Sprech gibt es in deutschen Parlamenten schon genug.