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Bremer Corona-Politik Bovenschulte: "Ich bin damals jeden Tag massiv beschimpft worden"

Vor fast genau einem Jahr ist die Corona-Pandemie für beendet erklärt worden. Jetzt werden die Rufe nach einer Aufarbeitung der Corona-Politik lauter. Das sagt Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD).
11.04.2024, 19:30 Uhr
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Bovenschulte:
Von Marc Hagedorn

Vor einem Jahr ist die Corona-Pandemie in Deutschland offiziell beendet worden. Zeit für eine Aufarbeitung, heißt es jetzt vermehrt. Eine Kommission zum Beispiel könnte bestimmte Maßnahmen von damals noch einmal unter die Lupe nehmen. Wie stehen Sie dazu?

Andreas Bovenschulte: Eine sachliche Debatte zu führen und Aufarbeitung zu betreiben, kann nie schaden. Und wenn die Notwendigkeit gesehen wird, gewisse Abläufe und Entscheidungen noch einmal zu betrachten, sollte man das tun. Zumal man ja sehr deutlich merkt, wie polarisiert die Meinungen immer noch sind.

Die Vorsitzende des Ethikrates, Alena Buyx, spricht bei der Pandemie von der „größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ und sagt, dass sie sich wundere, wie schnell in der Politik wieder zur Tagesordnung übergegangen worden sei. Teilen Sie diesen Eindruck?

Das ist in der Tat etwas erstaunlich, wenn man bedenkt, wie sehr dieses Thema zwei Jahre lang das tägliche Leben und die politischen Diskussionen bestimmt hat. Man kann sich das ja fast schon nicht mehr vorstellen: Aber monatelang war die wichtigste Nachricht des Tages der Inzidenzwert. Der hat entschieden, ob man am nächsten Tag wieder ins Büro oder in die Schule gehen oder in den Urlaub fahren durfte. In den Hochzeiten der Pandemie kannten die Bürgerinnen und Bürger fast jedes Detail, jede Wendung, jeden Absatz der Corona-Verordnung. In anderen Zeiten leben die Menschen ihr Leben. Da stehen dann andere Themen im Vordergrund.

Auch die Politik, so der Eindruck, hat schnell einen Haken an das Thema Corona gemacht.

Ich glaube, alle waren nur noch froh, dass es endlich vorbei war. Zumal in der Pandemie notgedrungen ja jede Menge Arbeit liegen geblieben ist. Und dann folgten auch gleich schon die nächsten Krisen: der russische Einmarsch in die Ukraine, steigende Energiepreise, die Inflation.

Trotzdem hat Corona für Langzeitfolgen gesorgt: zum Beispiel Long-Covid-Erkrankungen. Auch die Schulschließungen haben Spuren hinterlassen.

Die Kita- und Schulschließungen sind tatsächlich der Punkt, über den man unbedingt noch einmal reden müsste. In der Frage gab es damals ganz harte politische Auseinandersetzungen, auch hier in Bremen. Die Bildungssenatorin und der Senat haben gesagt: Schulen und Kitas sollten so weit wie möglich offenbleiben. Wir haben die Eltern sogar aufgefordert: Schickt eure Kinder hin! Aber es hagelte Kritik - von den Gewerkschaften, den Personalvertretungen, der Opposition, dem Bund und Teilen der Bevölkerung. Es gab einen riesigen Druck, die Schulen und Kitas zu schließen. Auch von den Medien. Von einem unverantwortlichen Bremer Sonderweg war da die Rede.

Den Sie heute wie bewerten?

Ich bin froh, dass wir diesen Weg gegangen sind. Wahrscheinlich hätten wir sogar noch konsequenter sein und noch früher wieder öffnen müssen. Aber da ist immer auch die Frage: Hält man das politisch aus? Ich bin damals jeden Tag in den sozialen Medien massiv beschimpft worden, und die Bildungssenatorin, Claudia Bogedan, noch viel mehr. Und eines dürfen wir nicht vergessen: Die ganze Auseinandersetzung wurde ja auch in die Schule getragen. Der Schulfrieden war massiv in Gefahr.

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Manches war in der Tat skurril, und das haben die Menschen zurecht auch kritisiert. Aber in den allermeisten Fällen gab es zwischen Niedersachsen und Bremen kaum einen Unterschied.

Wie sensibel das Thema Corona-Maßnahmen immer noch ist, zeigt sich an der aktuellen Diskussion über die freigegebenen Protokolle des Krisenstabs des RKI. Wolfgang Kubicki von der FDP, immerhin Vizepräsident des Bundestages, nennt die RKI-Einschätzungen eine „wissenschaftliche Fassade“ für politische Entscheidungen. Das ist starker Tobak.

Und grober Unfug. Ich finde es auch nicht gut, dass Passagen in den Protokollen geschwärzt wurden. Das leistet solchen Verschwörungstheorien ja nur Vorschub. Aber ich kann Ihnen als jemand, der dabei war, versichern: Es gab keine verborgene politische Agenda.

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Sie waren Mitglied der MPK, der Ministerpräsidentenkonferenz, die die wichtigsten Entscheidungen getroffen hat. Nehmen Sie uns mit, wie liefen die Sitzungen ab?

Wir haben diskutiert und gerungen, ernsthaft und oft stundenlang, manchmal bis weit nach Mitternacht. Es wusste doch niemand genau, was in so einer Pandemie das Richtige ist, auch die Experten nicht. So etwas hatten wir ja noch nie. Am Ende war es immer eine Abwägung. Was ist wichtiger? Der Gesundheitsschutz, das Kindeswohl, das Recht auf Bildung, die persönliche Freiheit, der Schutz der älteren, besonders gefährdeten Menschen, und, und, und. Es soll keiner glauben, dass wir uns das leicht gemacht haben.

Eine Kritik lautet, dass diese Entscheidungsprozesse ins Parlament und nicht in eine Ministerrunde gehört hätten. Wie sehen Sie das?

Nach der reinen Lehre trifft die grundlegenden Entscheidungen für das Gemeinwesen das Parlament, das stimmt. Das Problem ist nur: In einer Krise spitzen sich Entwicklungen zu, sie haben kaum Zeit zu reagieren, manchmal nur wenige Stunden oder Tage. Dann schlägt ganz automatisch die Stunde der Exekutive, weil es schnell gehen muss. Trotzdem war die Pluralität der Meinungen und Positionen gegeben, weil in der MPK, oder richtiger den Bund-Länder-Treffen, 17 Regierungen miteinander gerungen haben. Viele mögen es anders sehen, aber ich habe den Föderalismus in dieser Situation als große Stärke empfunden.

Das Gespräch führte Marc Hagedorn.

Zur Person

Andreas Bovenschulte (58)

ist Mitglied der SPD und seit 2019 Bremer Bürgermeister und Präsident des Bremer Senats.

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