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Bremen schneidet schlecht ab Kinderarmut: Wenn 237 Euro reichen müssen

Trotz der guten Wirtschaftslage leben immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland vom Existenzminimum. Im Land Bremen hat sich die Kinderarmut am schlechtesten entwickelt.
13.09.2016, 00:00 Uhr
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Kinderarmut: Wenn 237 Euro reichen müssen
Von Carolin Henkenberens

Trotz der guten Wirtschaftslage leben immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland vom Existenzminimum. Im Land Bremen hat sich die Kinderarmut am schlechtesten entwickelt.

Trotz der guten Wirtschaftslage leben immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland vom Existenzminimum. 1,9 Millionen Minderjährige sind auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen. Zwischen 2011 und 2015 ist der Anteil armer Kinder bundesweit von 14,3 auf 14,7 Prozent gestiegen. Die Zahlen stammen aus einer am Montag vorgelegten Studie der Bertelsmann-Stiftung, die aus Datenmaterial der Bundesagentur für Arbeit entstanden ist.

Im Land Bremen hat sich die Kinderarmut am schlechtesten entwickelt: Sie nahm hier in vier Jahren um 2,8 Prozentpunkte zu und ist mit 31,6 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Bundesschnitt. Das sind 3320 Kinder mehr als noch 2011 (32 152). Außerdem ist Bremen auf Platz zwei bei der Kinderarmut. Nur in Berlin leben mehr Kinder in Hartz-IV-Familien (32,2 Prozent).

Allerdings ist dort ein Rückgang zu verzeichnen (um 0,5 Prozentpunkte). Auch im Stadtstaat Hamburg ging die Kinderarmut leicht zurück (um 0,1 Punkte). In Ostdeutschland ist die Armut gesunken (von 24 auf 21,6 Prozent), in Westdeutschland stieg sie von 12,4 auf 13,2 Prozent.

Bayern belegt den besten Platz

Verlierer der Studie sind neben Bremen das Saarland mit einem Plus von 2,6 Punkten (17,6) und Nordrhein-Westfalen mit einem Zuwachs von 1,6 Punkten (18,6). Den besten Platz belegt Bayern, mit einer Quote von nur 6,8 Prozent und dem geringsten Zuwachs von 0,4 Prozentpunkten. In Niedersachsen wuchs der Anteil ebenfalls nur um 0,4 Punkte und liegt leicht über dem westdeutschen Mittelwert (14,6 Prozent).

Besonders betroffen sind Großstädte. Den absoluten Spitzenplatz nimmt Bremerhaven ein. In keiner anderen Stadt leben so viele Kinder und Jugendliche von der staatlichen Grundsicherung: 40,5 Prozent (2011: 35,4 Prozent). Bei den Kindern unter drei Jahren sind es sogar 44,7 Prozent. Schlecht abgeschnitten haben auch Gelsenkirchen (38,5), Offenbach (34,5) und Halle (33,4).

„Die Armut trifft oft strukturschwache Regionen, weil es strukturelle Gründe für die Armut gibt“, erklärt Antje Funcke von der Bertelsmann-Stiftung. „Familienpolitische Leistungen und wirtschaftlicher Aufschwung erreichen arme Menschen nicht.“

Unterstützung fehlt

Insbesondere Alleinerziehende und Paare mit drei oder mehr Kindern würden nicht genug unterstützt. In der Hälfte aller Fälle (50,2 Prozent) resultiert Kinderarmut in Deutschland daraus, dass kein Partner oder keine Partnerin vorhanden ist. 64 Prozent der vom Grundbedarf lebenden Kinder mit zwei oder mehr Geschwistern leben in einer so genannten "Paar-Bedarfsgemeinschaft", also in der Regel mit beiden Elternteilen.

Mit den gestiegenen Flüchtlingszahlen sei der Anstieg nicht allein zu erklären, sagt Funcke. In den Daten seien lediglich bereits akzeptierte Flüchtlinge enthalten. Die Stiftung plädiert dafür, den Regelsatz für Kinder besser am tatsächlichen Bedarf zu berechnen. Momentan wird er auf der Grundlage des Erwachsenen-Bedarfes (404 Euro) erstellt und liegt bei 237 Euro (bis sechs Jahre), 270 Euro (bis 14 Jahre) und 306 Euro (bis 18 Jahren).

So würden Kinder wie „kleine Erwachsene“ behandelt und ihre besonderen Bedarfe nicht beachtet. Funcke warnt vor den Folgen von jahrelanger Armut: „Für die Kinder haben diese Erfahrungen enorme Folgen für die Entwicklung und die soziale Integration.“ Für Hobbys, Ausflüge oder Kinobesuche fehlt das Geld. Deshalb seien Jugendliche häufiger isoliert. Welche psychischen oder sozialen Schäden Armut auf Menschen habe, sei noch viel zu wenig erforscht.

Kinderarmut ist oft Familienarmut

„Kinderarmut ist komplex und hat viele Ursachen. Sie ist sehr oft auch Familienarmut“, sagt Bürgermeister Carsten Sieling auf Anfrage. Er verweist auf die Anstrengungen, die der Senat bisher schon gegen Armut unternommen hat. So habe die rot-grüne Koalition trotz der Haushaltsnotlage in den vergangenen Jahren die Ausgaben auf Landesebene im Bildungsbereich, in der Kindertagesbetreuung aber auch in der Arbeitsmarktpolitik erhöht.

Er sieht die Möglichkeiten Bremens begrenzt und stattdessen die Bundesregierung in der Pflicht: „Wir brauchen auch eine Finanzpolitik, die auf eine aktive Arbeitsmarktpolitik und Investitionen in Bildung und öffentliche Infrastrukturen setzt.“ Ein Grund für die Entwicklung in Bremen liege in der Sozialstruktur. Bremen habe die höchste Quote bei den Sozialhilfeempfängern, die höchste Quote bei den Alleinerziehenden nach Berlin und eine hohe Arbeitslosenquote.

„Die Bertelsmann-Daten sind Ausdruck zunehmender sozialer Spaltung“, teilt Bremens Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) mit. Die neuen Daten bestätigten im Wesentlichen, was alle Untersuchungen seit vielen Jahren feststellten.

Bekämpfung der Armut

Wege aus der Armut seien Bildung und eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit einem fairen Lohnniveau sowie eine Kinderbetreuung, die das alles möglich macht. „Die Bekämpfung von Armut ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, so Stahmann. Alle Senatsressorts und auch die Wirtschaft und Gewerkschaften müssten daran arbeiten.

Bremerhavens Stadtrat für Soziales, Klaus Rosche (SPD), hält neben den strukturellen Gründen auch den Zuzug von EU-Bürgern aus Osteuropa für eine Ursache des großen Zuwachses der Hartz IV-beziehenden Kinder in seiner Stadt. Die Menschen ließen sich in Bremerhaven nieder, weil die Mieten dort so günstig seien – teilweise nur vier Euro pro Quadratmeter.

Die Opposition im Bundestag sieht die Bundesregierung in der Pflicht. Linkspartei-Vorsitzende Katja Kipping sagte dem WESER-KURIER: „Die Zukunft unserer Kinder darf nicht der schwarzen Null geopfert werden. Finanzminister Schäuble hat bisher alle Maßnahmen gegen Kinderarmut blockiert.“ Sie fordert eine Kindergrundsicherung.

Kindergrundsicherung benötigt

Auch der sozialpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Wolfgang Strengmann-Kuhn, betont: „Wir brauchen eine Kindergrundsicherung, die das Existenzminimum von Kindern garantiert und die Familien mit unteren und mittleren Einkommen entlastet.“

Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) verweist darauf, dass mit dem Mindestlohn, dem Kita-Ausbau und dem Elterngeld Plus schon wichtige Schritte gemacht worden seien. Wesentlich sei auch, die Kinder von Alleinerziehenden zu unterstützen. So soll der Unterhaltsvorschuss, den Alleinerziehende erhalten, wenn der Partner das Kind nicht finanziell unterstützt, künftig auch für über 12-Jährige gezahlt werden. Rund 260.000 Kinder könnten davon profitieren.

In einer früheren Fassung dieses Artikels hatte es geheißen, dass 64 Prozent aller von Grundsicherung lebenden Kinder zwei oder mehr Geschwister haben. Dies ist nicht korrekt. Es sind 36 Prozent.

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