Bremen. Erst wenige Tage ist es her, dass ein Wohnungsloser in einem Rostocker Park erfror. Die Zahl jener Menschen, die ohne Dach über dem Kopf durch den Winter kommen müssen, steigt, denn bezahlbare Wohnungen sind in vielen Städten rar. In der Zentralen Fachstelle Wohnen in Bremen hat sich die Zahl jener Menschen, die sich wohnungslos meldeten, von 2010 auf 2011 um elf Prozent erhöht.
Mal ist es der gesellschaftliche Abstieg durch Arbeitslosigkeit, Alkohol- oder Drogensucht, der Menschen – mehr Männer als Frauen – zum Leben auf der Straße treibt. Immer häufiger aber sind es Menschen, die kaum damit rechneten, nachts nicht zu wissen, wo sie schlafen können. Ihr Risiko: Sie leben an der Armutsgrenze. Wenn Mieten und andere Lebenshaltungskosten steigen, drohen Kündigung und Wohnungslosigkeit. In Hamburg und Freiburg haben Bürger gestern für bezahlbaren Wohnraum demonstriert.
Bundesweit sind laut der Evangelischen Obdachlosenhilfe rund 250 000 Menschen ohne Wohnung. Vor allem junge und ältere Menschen ab 50 Jahren in Ballungsräumen seien betroffen. Hier mache sich die zunehmende Altersarmut bemerkbar. Steigende Mieten und andere finanzielle Notlagen trieben viele Menschen in die Obdachlosigkeit. Bei Menschen unter 30 Jahren sei oft eine fehlende Ausbildung schuld.
Kommen bei Betroffenen mehrere ungünstige Faktoren zusammen, führt der Weg auf die Straße. Die Rückkehr in die Gesellschaft ist oft schwer. Berthold Reetz kennt viele dieser Schicksale. Er leitet das Jacobushaus des Vereins für Innere Mission in Bremen mit dem Jacobus-Treff als Tageseinrichtung für bedürftige Frauen und Männer und den Notunterkünften für obdachlose Männer. Für Frauen gibt es den Tagestreff "Frauenzimmer" und die angeschlossenen Notunterkünfte. Es gibt in beiden Einrichtungen Sprechstunden von Ärzten, Duschen, etwas zu essen. Freiwillige Mitarbeiterinnen bieten sich im "Frauenzimmer" als Gesprächspartnerinnen, für Rat und Hilfe an.
"Wenn man glaubt, dass Wohnungslose immer ungepflegt sind und streng riechen, stimmt das nicht", sagt Reetz, der innerhalb der Zentralen Fachstelle Wohnen (ZFW) Ansprechpartner für jene ist, die von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit betroffen sind. Vielen sei nicht anzusehen, dass sie nachts auf einer Parkbank, auf den Abluftgittern eines großen Imbisses in Bahnhofsnähe oder im Jacobushaus schlafen.
Die Erfahrung hat auch Zia Gabriele Hüttinger mit ihren ausschließlich durch Spenden unterstützten Suppenengeln gemacht. Seit 15 Jahren fährt die Bremerin Speisen mit dem Rad zu klassischen Treffpunkten von Bedürftigen wie Wohnungslosen. Dass ihr Ein-Frau-Angebot sich zur Organisation mit 35 ehrenamtlichen Mitarbeitern ausgeweitet hat, zeigt den Bedarf. Vor allem am Ende eines Monats, sagt sie, bilden sich sehr lange Warteschlangen auf dem Bahnhofsplatz, mit Menschen, die sich für eine Kelle Suppe anstellen. "Es gibt immer mehr Menschen an der Armutsgrenze", sagt Hüttinger. Viele Frauen seien inzwischen darunter, die erst im großen Bogen um die Suppenengel herumgehen, um sich dann ein Herz zu fassen – oder wieder wegzugehen. Eine alte Frau erzählte ihr kürzlich, dass ihr Mann ins Pflegeheim gekommen sei. 500 Euro weniger habe sie dadurch im Monat. Fürs eigene Essen ist nichts mehr übrig, wenn nur das Geld für die Miete noch reicht. Zia Hüttinger ist sicher: "Frauen sind am schlimmsten dran."
Etwa 3000 Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, berät und unterstützt die ZFW pro Jahr. Ein Drittel sind Frauen. 700 Räumungsklagen verzeichnet die ZFW pro Jahr. Sie hilft bei Vermittlung zwischen Mieter und Vermieter, im Notfall bei der Suche neuer Wohnungen und Bezahlung von Mietrückständen über Darlehen. Auf etwa 800 Menschen pro Jahr schätzt die ZFW jene in den Notunterkünften. 400 weitere werden vorübergehend in Pensionen untergebracht.
200 bis 300 Menschen, schätzt Bertold Reetz, leben in Bremen auf der Straße. "Und ich glaube, dass die Zahl steigt", sagt er. Schon allein durch jene aus Osteuropa, die mit Schlepperbanden nach Bremen, Hamburg oder Berlin kommen und hier Arbeit suchen. Die Streetworker vom Verein für Innere Mission kennen ihre Aufenthaltsorte. Bevor der Frost kommt, suchen sie sie auf und erzählen vom Jacobushaus. Schön ist es dort nicht. "Wir kämpfen dafür, dass Unterkünfte menschenwürdiger werden", sagt Reetz. Erfrieren soll in Bremen niemand. Die Notunterkünfte nehmen jeden auf, der ein Bett braucht. Auch die BSAG hat angekündigt, dass sie Obdachlose wieder kostenlos Bahn und Bus fahren lässt, wenn es allzu kalt wird.