Am Tag danach atmet die amerikanische Hauptstadt tief durch. Das befürchtete Chaos bei der Amtseinführung Joe Bidens ist ausgeblieben. In Washington breitet sich das ungewohnte Gefühl der Normalität aus. Dazu bei trug auch die erste Pressekonferenz der neuen Sprecherin des Weißen Hauses Jen Psaki. Psaki versprach, mit Nachdruck daran zu arbeiten, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die faktische Richtigkeit von Informationen der Regierung wiederherzustellen. Und sich täglich den Fragen der Reporter zu stellen.
Die wollten von ihr gleich wissen, wie Biden mit dem Widerstand auf dem Kapitolhügel aus Teilen der Republikanischen Partei umzugehen gedenkt. Diese hatten im Senat am Mittwoch die Bestätigung seines sicherheitspolitischen Teams mit formalen Einwänden verzögert.
Damit ist der 46. US-Präsident der erste, der sein Amt ohne einen einzigen Minister antritt. Der Senat bestätigte allein die Wahl von Avril D. Haines an die Spitze der 16 US-Geheimdienste. Biden entschied am Donnerstag, FBI-Chef Christopher Wray im Amt zu belassen. Der designierte Außenminister Anthony Blinken muss ebenso auf seine Bestätigung warten wie Lloyd Austin als neuer Chef des Pentagon und Alejandro Mayorkas an der Spitze des Heimatschutz-Ministeriums. Die Demokraten haben mit der Vereidigung der drei neuen Senatoren Raphael Warnock, Jon Ossoff und Alex Padilla und der Stimme von Vizepräsidentin Harris zwar eine hauchdünne Mehrheit, müssen mit den Republikanern aber noch eine Aufgabenverteilung aushandeln.
Zustimmung des Kongresses entfällt bei Dekreten
Weil der neue Präsident im Kongress Geduld braucht, greift er zum Mittel der Dekrete, mit denen er die Ausführung bestehender Gesetze und die Behördenpraxis ohne Zustimmung des Kongresses verändern kann. US-Präsident Joe Biden unterzeichnete am ersten Tag 17 dieser sogenannten Exekutivbefehle, die symbolisch und substanziell auf einen Bruch mit der Ära Trump abzielten.
Unter anderen treten die USA binnen 30 Tagen wieder dem Pariser Weltklima-Abkommen bei, nehmen die Mitgliedschaft in der Weltgesundheitsorganisation wieder auf, deren größter Beitragszahler sie waren, beenden den Reisebann für Menschen aus mehrheitlich islamischen Ländern, beenden mit sofortiger Wirkung den Mauerbau, machen die Zusammenführung der an der Südgrenze von ihren Eltern weggenommenen Flüchtlingskindern mit ihren Familien zu einer Priorität und führen die Maskenpflicht überall dort ein, wo die Bundesregierung Zuständigkeit hat. Am Donnerstag präsentierte Biden eine nationale Covid-19-Strategie, die unter anderem die Impfung der Bevölkerung sowie die Produktion von Masken und Schutzkleidung beschleunigen soll.
Unklar blieb wie schnell der Senat mit dem Prozess gegen Trump beginnt. Die „Washington Post“ berichtet, der General Charles Flynn, dessen Bruder Michael von Trump wegen seiner Rolle in der Russland-Affäre begnadigt wurde, sei an dem Entscheidungsprozess im Pentagon beteiligt gewesen, der zur Verzögerung bei der Entsendung von Verstärkung für die überrannte Polizei im Kongress am 6. Januar geführt hat.
Poetin rührt Amerika
Sie war der eigentliche Star bei der Amtseinführung Bidens: Amanda Gorman. Die 22-jährige Poetin las ein Gedicht vor, in dem sie ihre Lebensgeschichte mit der harten sozialen Realität Amerikas verwebte, und sorgte damit für einen der wohl meistdiskutierten Auftritte rund um die Amtseinführung. „An einem Tag für die Geschichtsbücher präsentierte Amanda Gorman ein Gedicht, das mehr als nur den Moment traf“, schrieb der frühere US-Präsident Barack Obama auf Twitter. Mit aussagekräftiger Gestik las Gorman „The Hill We Climb“ (auf Deutsch etwa: Der Hügel, den wir erklimmen) vor. „The Hill“ – so wird auch das Kapitol bezeichnet, das vor zwei Wochen von einem wütenden Mob gestürmt wurde.
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