Für den Generalkonsul der Russischen Föderation, Andrei Sharashkin, hat die Suche nach den sterblichen Überresten sowjetischer Soldaten eine persönliche Komponente. Sein Großvater ist schon in den ersten Kriegstagen spurlos verschwunden, nie wieder hat seine Familie von ihm gehört. Wenn er nicht im Juni 1941 im Kampf gegen die deutschen Invasoren gefallen ist, könnte es ihn nach Deutschland verschlagen haben. In ein Kriegsgefangenenlager wie jenem in Bremen, in dessen Nähe schon bald ein improvisierter Friedhof angelegt wurde, der sogenannte Russenfriedhof.
Seit zwei Wochen wird auf dem Gelände an der Reitbrake in Oslebshausen intensiv gegraben. Nun haben sich erste Spuren der einst hier beerdigten Kriegsgefangenen gefunden: keine sterblichen Überreste, aber zwei Erkennungsmarken. Die erste am Freitag, die zweite am Dienstag. Beim Sieben per Hand kamen die Marken ans Tageslicht. Zu entziffern sind die Nummern nicht, sie müssen laut Landesarchäologin Uta Halle erst noch freipräpariert werden. "Dann können wir diesen beiden Soldaten ihre Identität zurückgeben."
Zum dritten Mal hat Sharashkin dem "Russenfriedhof" am Mittwoch einen Besuch abgestattet, begleitet wurde er von russischen Medienvertretern. In seiner Heimat sei man "very sensitive about military graves", sagt er: sehr sensibel im Umgang mit Kriegsgräbern.
Im freigelegten Bereich direkt an den Bahngleisen ist mit Leichenfunden kaum zu rechnen. Ganz einfach deshalb, weil man in diesem Abschnitt bereits kurz nach Kriegsende zahlreiche Tote geborgen hat. Halle spricht von der "Exhumierungsgrube". Man sei jetzt dabei, die Gräber zu untersuchen. Insgesamt 446 Leichen wurden 1948 exhumiert und in der zentralen Kriegsgräberstätte Osterholz beigesetzt. Für den Fund der Erkennungsmarken hat Halle eine plausible Erklärung zur Hand. "Durch die Verwesungsprozesse bis 1948 werden sie bei der Exhumierung verloren gegangen sein", sagt sie.
Ungeklärt ist bis heute, ob im weiteren Umfeld noch Tote in der Erde ruhen. Bei einer ersten Überprüfung auf Weisung der Alliierten hatte die Polizei 1946 rund 750 Tote gezählt. Das ergibt eine Differenz von bis zu 300 Personen, deren Verbleib noch immer ungeklärt ist. "Zurzeit wissen wir nicht, wo die anderen Gräber sind", sagt Halle. Schon jetzt ist mit schwerem Gerät eine ähnlich große Fläche wie die "Exhumierungsgrube" auf der anderen Seite des Geländes freigelegt worden. Auch dort und ebenso auf dem noch nicht angetasteten Mittelabschnitt soll nach den knapp 300 Vermissten gesucht werden.
Was aber, wenn man wirklich auf Tote stoßen sollte? Ihre letzte Ruhe dürfe nicht gestört werden, fordern die Bürgerinitiative Oslebshausen und Umzu und das Bremer Friedensforum, das Areal solle als Kriegsgräberstätte eingerichtet werden. Oder wäre eine Überführung auf den Osterholzer Friedhof die angemessene Lösung? Der russische Generalkonsul hält sich in dieser Frage bedeckt. Darüber werde zu sprechen sein, wenn der Fall tatsächlich eintrete. Allerdings habe er den Osterholzer Friedhof schon kennengelernt. Sein Eindruck: "A nice place", eine ansprechende Örtlichkeit. Nicht zuletzt für das Gedenken an die Toten.
Mit den Bremer Behörden hat sich Sharashkin bereits mehrfach getroffen. Für die Verwaltung findet er anerkennende Worte, er sei "absolut zufrieden" mit der Arbeit der örtlichen Autoritäten. Transparenz spiele eine große Rolle, sagt er, die Öffentlichkeit soll über die Vorgänge im Bilde sein. Wichtig ist in seinen Augen, junge Menschen an dem Projekt zu beteiligen. Auf sein Betreiben werden auch Studierende aus der Ukraine bei den Ausgrabungen helfen.
Bis zum Grund der Gräber sind die Archäologen und ihre studentischen Hilfskräfte von der Universität Bremen bislang nicht vorgedrungen, man kratzt noch an der Oberfläche – im wahrsten Sinne des Wortes. Eine mühselige Arbeit, wie Halle betont. Ab nächster Woche wird es aber einfacher, dann soll eine schon bereitstehende gewaltige Siebmaschine zum Einsatz kommen.
Eine "sehr komplizierte Situation" habe man vorgefunden, sagt Halle. Nicht nur, weil eine Betondecke beseitigt werden musste. Es ahnte auch keiner, dass über dem früheren Friedhof eine ansehnliche Schicht aus Trümmerschutt lag. Daher auch Fundstücke, die an dieser Stelle geradezu kurios wirken: der Deckel einer Milchkanne, ein Löffel, eine Fußbodenfliese, ein durch Hitzeeinwirkung verformter Flaschenhals – und ein frühneuzeitlicher Kochtopf, der nach Einschätzung von Halle bis zu 400 Jahre alt sein könnte.
Bis zum Wintereinbruch hofft Halle auf einen Abschluss der Grabungen, jeder einzelne Schritt wird fotografiert und dokumentiert. Wie sehr ihm die Grabungen am Herzen liegen, hat der Generalkonsul jetzt wieder deutlich gemacht. Bei ungewöhnlichen Funden sei er "ready to come any moment", sagt er – er sei bereit, jederzeit zu kommen.