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Vorabeiten am "Russenfriedhof" Auf der Suche nach den Toten in Bremen-Oslebshausen

Die Vorarbeiten für Grabungen auf dem "Russenfriedhof" sind angelaufen, im August könnte es so weit sein. Neue Quellen deuten darauf hin, dass bei der Umbettung 1948 Hunderte von Leichen vor Ort blieben.
15.05.2021, 20:07 Uhr
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Auf der Suche nach den Toten in Bremen-Oslebshausen
Von Frank Hethey

Es regnet an diesem Nachmittag, ein trübes Wetter. Zum früheren "Russenfriedhof" an der Reitbrake führt ein unbefestigter Weg mit lauter Schlammpfützen. Rechter Hand befinden sich die Bahngleise, schon im Zweiten Weltkrieg rumpelten dort die Züge vorbei. Zur Linken sieht man eine Reihe von Lagerplätzen der hier angesiedelten Betriebe. Am Ende des Wegs wächst ein Grashügel empor, in der Ferne zeichnet sich der Wohnkomplex Wohlers Eichen ab. Um die langen, rot-weißen Markierungsstäbe zu erkennen, muss man schon sehr genau hinsehen – sie bezeichnen den Umfang einer 60 mal 60 Meter großen Grabstätte, die es eigentlich gar nicht mehr geben sollte. 

Im Zweiten Weltkrieg wurden an dieser Stelle in Kriegsgefangenschaft umgekommene russische Soldaten begraben. Bereits kurz nach dem deutschen Überfall auf die damalige Sowjetunion waren im September 1941 die ersten 600 Männer nach Bremen gekommen. "Für den Arbeitseinsatz", sagt Konrad Elmshäuser, Leiter des Staatsarchivs. Doch daran war nicht zu denken, schon bei ihrer Ankunft befanden sich die Gefangenen laut Elmshäuser in einem "erschütternden Zustand". Hunger und Seuchen dezimierten sie in kürzester Zeit, die Mortalitätsrate schnellte in die Höhe. "Von den 600 Soldaten waren bald nur noch 200 am Leben", sagt der 61-Jährige.  

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Die ersten 100 Toten wurden noch auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Schon bald zeichnete sich ab, dass der Platz nicht reichen würde. Als Ersatz wiesen die Behörden ein 20.000 Quadratmeter großes Areal an der Reitbrake aus. "Ein Riesengelände", sagt Landesarchäologin Uta Halle. Tatsächlich sei es aber gar nicht in vollem Umfang genutzt worden. Über die exakten Ausmaße des "Russenfriedhofs" geben alliierte Luftbilder Auskunft, die unlängst angefordert und ausgewertet wurden.

Anders als man meinen könnte, wurden die Toten nicht in Massengräbern unter die Erde gebracht. Elmshäuser spricht von Einzelgräbern "im erweiterten Sinn". Gerade einmal 35 Grabstellen waren mit Namen versehen, 280 Grabstellen nur mit Nummern. Weitere 460 Tote wurden ohne Kennzeichen begraben. Davon zu sprechen, dass die Leichen "verscharrt" worden seien, ruft laut Elmshäuser falsche Assoziationen hervor. Das Gesundheitsamt habe penibel darauf geachtet, dass keine Gesundheitsgefährdung von den Grabstellen ausging. Die Toten seien zwar ohne Sarg, aber vergleichsweise tief begraben worden.  

Noch bis vor Kurzem galt es als ausgemachte Sache, dass auf dem Gelände keine Toten mehr ruhen. "Bis vor vier Wochen habe ich das selbst noch geglaubt", sagt Elmshäuser. Das sei der Wissensstand gewesen, sein Vorgänger Hartmut Müller habe ihn noch entsprechend informiert. Doch jetzt gibt es daran begründete Zweifel. Jüngst eingesehene Quellen deuten auf eine Fehleinschätzung hin. Die Frage ist: Wurden womöglich nicht sämtliche Toten exhumiert, als man 1948 die zentrale Gedenkstätte für alle Kriegstoten auf dem Friedhof Osterholz einrichtete? 

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Zeitgenössischen Quellen zufolge wurden rund 800 Tote auf dem Gelände beerdigt. Diese Zahl geisterte auch durch die Presse, als die Umbettung vollzogen werden sollte. Im Mai 1946 hatte das Polizeirevier in Oslebshausen auf Weisung der Siegermächte ein Protokoll über den Zustand des Friedhofs angelegt, damals entsprach er noch dem Kriegszustand. Doch als man sich zwei Jahre später ans Werk machen wollte, war der Friedhof plötzlich verschwunden. "Das Gelände war mit Spülsand aus dem Hafen überspült", sagt Elmshäuser. "Es ist ein Rätsel, wieso das gemacht wurde." Offenbar wusste man nicht recht, wohin mit dem Schlick – der "Russenfriedhof" erschien als nahe liegende Lösung. 

Von geordneten Grabstellen war mithin nichts mehr zu sehen. Gleichsam blind musste man im Boden stochern, um die Leichen zu bergen. Zunächst seien 24 Mitarbeiter des Gartenbauamts für die Exhumierungen vorgesehen gewesen, berichtet Elmshäuser. Tatsächlich waren aber nur zwölf Männer im Einsatz. "Und das auch noch mit schlechten technischen Hilfsmitteln." Statt der vermuteten 800 fanden sich nur 450 Leichen. "Da sagte man sich, es waren wohl doch nicht so viele."  

Auf wie viele sterbliche Überreste man bei den anstehenden Grabungen stoßen wird, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Um diese Frage zu klären, sollen die Arbeiten ja gerade stattfinden. Darüber, dass die Kriegsopfer nicht an diesen Ort gehören, besteht weitgehend Einigkeit. "Die Umbettung ist auch von ukrainischer Seite ausdrücklich erwünscht", sagt Halle. "Dieser Platz hier ist unwürdig."

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Dank der Markierungsstäbe ist das ehemalige Friedhofsareal jetzt genau zu erfassen. Schon beim Einpflocken gab es die erste Überraschung. "Der Untergrund besteht teilweise aus Beton", sagt Halle. Danach muss man sich erst einmal durch zwei Meter aufgespülten Sand wühlen. Den Anfang wollen Halle und ihr Team direkt am Gleis machen, ein Abschnitt von 60 Metern. Von dort aus will man sich dann langsam vortasten.

"Wir hoffen, dass wir im August beginnen können", sagt die 64-Jährige. Zuvor muss noch für die gesamte Infrastruktur gesorgt werden, ein Bürocontainer wie auch Toiletten werden gebraucht, ein zeitraubender Vorgang. Bis zum Anbruch des  Winters würde Halle die Arbeiten gern abgeschlossen haben. Dabei wird sie auf die Hilfe ihrer Studierenden setzen können. Die seien "ganz aufgeschlossen" gewesen. Zudem sei auch von russischer Seite der Wunsch vorgebracht worden, junge Menschen an den Grabungen zu beteiligen. Für die Arbeiten soll ein Zelt aufgebaut werden, das sich stückchenweise verlängert lässt. Als Schutz vor schlechtem Wetter, aber auch aus Gründen der Pietät. "Das hier ist etwas anderes, als wenn wir Leute aus der Steinzeit ausgraben", sagt die Landesarchäologin.

Elmshäuser rechnet relativ fest damit, auf sterbliche Überreste zu stoßen. "Wenn wir uns irren sollten, bleibt die Frage: Wo sind die 300 Toten geblieben?"  

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