Die Leitidee Ihrer Schule lautet: „Eine Schule für alle“. Was steckt dahinter?
Stephan Wegner: Wir wollen eine durchmischte Schülerschaft mit einer ausgewogenen Leistungsverteilung, wo jeder von jedem lernen kann. Die Vielfalt der Gesellschaft soll sich auch in unserer Schule wiederfinden. Deshalb möchten wir Schüler mit unterschiedlichen Persönlichkeitsvoraussetzungen, auch Schüler mit einem Inklusionsbedarf. Für uns sind das keine Beeinträchtigungen, sondern eigentlich Persönlichkeitserscheinungen. Jeder von uns hat irgendwelche Beeinträchtigungen oder irgendwelche Begabungen. Wir möchten eine Schule sein, die für alle Persönlichkeiten offen steht.
Andere Schulen in Bremen bereitet die Inklusion Schwierigkeiten. Wie sind Sie das Thema angegangen?
Stephan Wegner: Wir haben zum Beispiel das Thema Beschulung von Schülern des Bereichs Wahrnehmung und Entwicklung offen diskutiert und über ein Jahr vorbereitet. Wir haben alle Gremien mit eingebunden und eine offene Podiumsdiskussion veranstaltet. Alle Gremien haben sich dafür mit überwältigender Mehrheit ausgesprochen. Wir sind eine Schule für alle und sehen entsprechend Schüler mit dem Förderbedarf Wahrnehmung und Entwicklung als Bereicherung für unsere Schule an.
Andrea Merrath: Durch die Idee, dass wir ein sogenannter W&E-Standort werden, ist das nochmal neu belegt. Für diese Weiterentwicklung der Schule haben sich jüngst alle Beteiligten aktiv entschieden, sowohl die Schüler, die Elternschaft als auch das Kollegium. Sie alle haben gesagt, dass finden wir eine gute und spannende Idee, die uns alle bereichert.
Steckt noch mehr hinter der Leitidee?
Stephan Wegner: Eine Schule für alle soll sich nicht nur im gemeinsamen Lernen widerspiegeln, sondern auch im alltäglichen Miteinander. Das fängt schon mit dem kostenlosen Frühstück an, das wir anbieten. Die Schüler kommen an und fühlen sich wohl. Sie können sich mit ihren Freunden treffen und erleben Schule nicht nur als reine Lernanstalt, sondern als Lebensraum. Es ist ein gemeinschaftlicher Lebensraum mit einer Kultur, wo wir uns offen auf einander freuen.
Andrea Merrath: Unsere Schüler bekommen etwa die Möglichkeit, ein Instrument zu erlernen und zu spielen. Wir schaffen vielfältige Zugänge, sodass jeder in unterschiedlichen Persönlichkeitsbereichen Begabungen und Fähigkeiten ausbilden kann. Und das unabhängig vom Elternhaus. Wir bieten zum Beispiel die Möglichkeit, für sehr wenig Geld eine Gitarre auszuleihen und anschließend an einer Arbeitsgemeinschaft teilzunehmen, um das Spielen richtig zu erlernen. Im Robotikbereich können etwa Fähigkeiten im Bereich MINT ausprobiert und Fertigkeiten ausgebaut werden, im Bereich der Deutschkompetenzen kann man zum Beispiel lernen, einen Roman zu schreiben.
Welchen Nutzen haben die Schüler dadurch?
Stephan Wegner: Wenn das Drumherum stimmt, die Schüler sich hier wohlfühlen, dann ist auch der Lernerfolg viel, viel höher.
Früher hatte die Schule einen schlechten Ruf. Heute ist sie mehrfach ausgezeichnet, etwa als „Sozialste Schule Bremens“ oder als „Schule im Trialog der Kulturen“. Wie haben Sie diesen Wandel geschafft?
Stephan Wegner: Wir haben klare Strukturen erstellt, die von allen getragen werden. Schule kann nur funktionieren, wenn alle mitmachen. Unser Leitbild ist ein friedliches und gewaltloses Miteinander. Wir dulden keine Menschen, die anderen Menschen ihre Meinung mit Gewalt aufdrücken wollen. Die sind hier verkehrt. Es ist jeder willkommen, der sich in die Gemeinschaft einbringt und sie mit seiner eigenen Persönlichkeit bereichert, aber wir wollen und dulden keine Gewalt.
Wie setzen sie das um?
Stephan Wegner: Wir helfen den Schülern, die das nicht können. Über soziales Lernen vermitteln wir ihnen, wie man sich mit anderen arrangiert und Konflikte vernünftig austrägt. Wir haben ein Streitschlichterprogramm und Schüler-Scouts, die unentgeltlich aufpassen und die Aufsicht mit übernehmen. Wir haben konsequente und transparente Regeln, die angewendet werden, wenn Schüler die Regeln verletzten. Die sind allen bekannt und wir ziehen sie transparent und offen durch. Dadurch haben wir zum Beispiel kaum Schlägereien an der Schule.
Andrea Merrath: Wir haben ein engagiertes Kollegium, das den kleinen und den großen Konflikten intensiv nachgeht. Sie sind aufmerksam und begleiten die Prozesse der Schüler.
Stephan Wegner: Es gibt Unterstützung für die Schüler, zum Beispiel von Sozialpädagogen, aber auch durch Maßnahmen wie etwa ein Anti-Aggressions-Training oder ein Konfliktmanagement. Manchmal gibt es hier auch schwerwiegendere Probleme, die über das Zentrum für unterstützende Pädagogik (ZuP) betreut werden. Sonder- und Sozialpädagogen schauen dann, ob es überhaupt ein schulisches Problem ist oder ob der Frust auch außerschulisch begründet ist, um entsprechende Unterstützungsangebote zu schaffen.
Andrea Merrath: Wir gehen engmaschig den Dingen nach, wir gucken hin und wir handeln. Auch bei Schulmeidung warten wir nicht ewig ab sondern reagieren schnell und informieren die anderen institutionellen Ebenen.
Eine weitere Auszeichnung hat die Schule für die Berufsvorbereitung der Schüler bekommen. Was machen Sie in diesem Bereich?
Stephan Wegner: Wir versuchen, unseren Schülern gute Chancen für die weiterführenden Schulen oder auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen, indem wir zum Beispiel auch gucken, in welchen Berufen wird gerade Personal gesucht. Dafür muss man am Puls der Zeit sein. Wir haben Pflegenotstand und deshalb arbeiten wir mit einem Krankenhaus zusammen. Der Einzelhandel hat Nachwuchssorgen, deshalb gibt es Kooperationen mit den hiesigen Unternehmen. Auch Erzieher werden dringend gesucht und darum arbeiten wir mit den Kindergärten zusammen. Schüler für die weiterführenden Schulen, wissen noch nicht, in welches Profil sie gehen wollen, wir vermitteln Hospitationen zur Entscheidungsfindung.
Wie funktionieren diese Kooperationen?
Andrea Merrath: Wir haben Schülerfirmenprojekte, die die Schüler in der neunten Klasse besuchen. Wer sich etwa für die Firma „Jung trifft alt“ bewirbt, geht zum Beispiel jeden Mittwoch von der dritten bis zur fünften Stunde in das Krankenhaus in Blumenthal und besucht die Geriatrie. Dort werden sie von der Stationsleitung begleitet. Im Laufe des Schuljahres gehen sie ihren Aktivitäten zunehmend selbstständig nach.
Was machen die Schüler mit den Patienten?
Andrea Merrath: Sie spielen Gesellschaftsspiele mit ihnen, oder sie lesen ihnen aus der Zeitung vor. Die Schüler denken, sie können den Patienten interessante Geschichten vorlesen und sie möglichst gut unterhalten. Aber die Patienten wollen oft erst einmal die Todesanzeigen vorgelesen bekommen, weil sie das besonders interessiert, da sie selbst die Zeitung nicht mehr lesen können.
Durch diese Kooperation wird den Schülern der Beruf schmackhaft gemacht?
Andrea Merrath: Es werden Berührungsängste abgebaut und Kontakte mit Berufen aufgenommen, die im Krankenhaus angesiedelt sind. Aus dieser Schülerfirma heraus entstehen auch Kontakte für Praktika. Nicht selten absolvieren die Schüler in der neunten oder zehnten Klasse ein dreiwöchiges Praktikum im Krankenhaus. Die Anzahl derjenigen, die sich für einen pflegerischen Beruf entscheiden, hat sich in den vergangenen Jahren erhöht. Deshalb freuen wir uns sehr über diese Kooperation und die Früchte, die sie trägt.
Stephan Wegner: Wir können uns auch vorstellen, diese Kooperationen in Zukunft zu erweitern. Wir sind gerade in Gesprächen mit anderen Branchen. Wir gucken, ob wir mit dem Handwerk etwas aufbauen und beispielsweise im Zuge des Ganztagsunterrichts einen Maurerkurs anbieten. Zukünftig wollen wir auch das Know How der berufstätigen Eltern nutzen. Das ist ein Projekt, bei dem Eltern uns mit ihren praktischen Erfahrungen unterstützen und Berufsperspektiven vom Studium bis zum Beruf aufzeigen können.
Das Gespräch führte Aljoscha-Marcello Dohme.
Stephan Wegner ist seit 2017 Direktor der Oberschule in den Sandwehen. Damit ist er für fast 800 Kinder und Jugendliche zuständig, die auf insgesamt 33 Klassen aufgeteilt sind.
Andrea Merrath leitet die Schule stellvertretend und hat zudem die didaktische Leitung inne. Parallel zu den organisatorischen Aufgaben stehen beide regelmäßig vor den Klassen und unterrichten die Schüler.