Gut zwei Monate ist es her, dass die "Schulschiff Deutschland" wie ein Popstar in Bremerhaven empfangen wurde. In frühmorgendlicher Dunkelheit hatte sich das letzte deutsche Vollschiff von seinem alten Liegeplatz in Vegesack verabschiedet. Ein Ständchen an der Waterkant und Böllerschüsse klangen ihr nach, als sie – von zwei Schleppern gezogen – auf der Weser gen Norden fuhr. Einige Stunden später, in strahlendem Sonnenschein, mit bunten Fähnchen und in Feierlaune, begrüßten Bremerhavenerinnen und Bremerhavener die alte Dame im Neuen Hafen. Dort liegt sie nun, bereits wenige Tage nach dem Manöver war sie für Neugierige zugänglich. Eine erste Bilanz gibt der umstrittenen Entscheidung, das Schiff zu verlegen, Recht.
"Die Zahlen sind sehr erfreulich", sagt Claus Jäger, Vorsitzender des Deutschen Schulschiff-Vereins, der sich um das Schiff kümmert. Im September seien insgesamt 3670 Tickets verkauft worden, davon 122 an Familien. Auch im Oktober sei das Interesse ähnlich gewesen: 3200 Tickets, darunter 351 Familienkarten, gab der Verein ab. Der Vergleich zur vorherigen Situation steche bereits ins Auge, sagt Jäger: "Wir hatten jetzt, in zwei Monaten, so viele Besucher wie in Vegesack im ganzen Jahr."
Natürlich sei das auch ein "Neuigkeiteneffekt", aber grundsätzlich sehe er in dieser ersten Bilanz eine Bestätigung des Ziels, an die 50.000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr zu haben. "Bremerhaven hat insofern unsere Hoffnungen erfüllt", sagt Jäger. Zu denjenigen, die eine Karte für eine Schiffsbesichtigung kaufen, kommen diejenigen, die sich auf der "Schulschiff Deutschland" trauen lassen, eine Übernachtung oder Räume an Bord buchen. Auch das habe es in Bremerhaven bereits gegeben.
Zum Vergleich der "Schulschiff"-Gästezahlen und der Hoffnung auf 50.000 Besucherinnen und Besucher jährlich lohnt ein Blick auf ähnliche Attraktionen. Das Deutsche Schifffahrtsmuseum, dessen Eintrittskarte zugleich den Zugang zum Museumshafen ermöglicht, verzeichnete laut Sprecher Thomas Joppig im Vor-Corona-Jahr 2019 insgesamt gut 64.000 Gäste, 2020 waren es rund 53.000. Das Technikmuseum U-Boot "Wilhelm Bauer" ist regulär von Mitte März bis Mitte November geöffnet, 2019 kamen in dieser Zeit knapp 88.000 Menschen. Während der pandemiebedingt deutlich verkürzten Öffnungsperiode 2020 registrierte das Museum an die 60.000 Gäste, teilt Geschäftsführer Klaus Kreowski auf Anfrage mit.
Die "Schulschiff Deutschland" habe es innerhalb kurzer Zeit geschafft, eine der Top-Attraktionen der Seestadt zu werden, heißt es vonseiten der Touristik- und Marketinggesellschaft "Erlebnis Bremerhaven". Auch auswärtigen Gästen sei sie bekannt, vor allem die Möglichkeit, an Bord zu übernachten, werde nachgefragt. Aktuell arbeiteten Touristikgesellschaft und Trägerverein daran, Pauschalen für eine Kombination von Schiffsführung und Übernachtung zu entwickeln. Oberbürgermeister Melf Grantz zieht ebenfalls eine positive Bilanz: "Bremerhavens Bürgerinnen und Bürger haben das Schulschiff bereits ins Herz geschlossen." Viele sähen es als "neues Wahrzeichen für die Stadt".
Unterstützung an Bord gesucht
Wie sehr die "Schulschiff Deutschland" in Bremerhaven angekommen ist, zeigt sich zudem in den Mitgliederzahlen des Vereins. Bei der Abstimmung über den Umzug in die Seestadt im April seien es knapp 270 Mitglieder gewesen, inzwischen zähle das Register mehr als 400. Der absolute Großteil der neu Hinzugekommenen lebe in Bremerhaven, sagt Jäger. Auch an Bord hat sich die personelle Situation verändert. Bootsmann Ingo Müller-Fellmett hat nach 45 Jahren seinen Abschied von der "Schulschiff Deutschland" genommen, seine Helfer, allesamt aus Vegesack, seien ebenfalls nicht mehr dabei, sagt Jäger. Der Anfahrtsweg sei schlicht zu weit. Die Wachgänger seien geblieben, es habe sich jedoch herausgestellt, dass nun mehr Personal für diese Aufgabe benötigt werde. Aus Bremerhaven seien bereits einige neue Helfer hinzugestoßen, weitere Unterstützung, unter anderem für den Frühstücksservice, sei aber nötig und willkommen.
Bei aller Begeisterung gibt es einen Kritikpunkt: Anwohner fordern, das Schiff zu verlegen. Sie fühlten sich durch die Gäste gestört und blickten nun nicht mehr auf den Neuen Hafen, sondern die Bordwand, berichtet die "Nordseezeitung". Ein Anwalt sei eingeschaltet worden. Sollte es zu einer Klage kommen, würde sich die nicht gegen den Schulschiff-Verein, sondern gegen die Stadt Bremerhaven richten, da diese den Vertrag über den Liegeplatz mit dem Verein geschlossen habe, erläutert Jäger. Der Magistrat der Stadt Bremerhaven teilte dazu mit, die Auseinandersetzung werde nach wie vor außergerichtlich ausgetragen.