Der SV Werder Bremen ist souveräner Tabellenführer in der 2. Handball-Bundesliga der Frauen. Der Vorjahresneunte weist auch nach fünf Spieltagen noch eine weiße Weste auf und schickt sich an, das Image des ewigen Abstiegskämpfers abzulegen. "Wir werden inzwischen anders wahrgenommen", freut sich Timm Dietrich über die Entwicklung der Mannschaft. Im Sommer hatte der 33-jährige A-Lizenz-Inhaber den Niederländer Robert Nijdam auf dem Cheftrainerposten abgelöst. Dietrich hat den Kader im Vergleich zur Vorsaison etwas breiter aufgestellt und für ein neues Selbstverständnis im Team gesorgt. Bis Weihnachten wolle er abwarten, sagt Dietrich. Sollte Werder bis dahin weiter so erfolgreich spielen, werde er die Situation neu bewerten und andere Ziele ausgeben. Das sind die Faktoren, die den SV Werder zurzeit so stark machen:
Der Kader: Mit Luca Schumacher, Hannah Weyers (beide VfL Oldenburg II), Madita Probst, Leonie Schumacher (beide Buxtehuder SV II), Lara Niemann (SV Altencelle) und Emy Jane Hürkamp (Frankfurter HC) hat Werder zur neuen Saison gleich ein halbes Dutzend junger Spielerinnen unter Vertrag genommen, die allesamt – Achtung: aus der dritten Liga kommen. Alle sechs haben derweil schnell in ihre Rolle gefunden und agieren nun im grün-weißen Verbund auf einem Top-Zweitliga-Niveau. Dabei zahlt es sich aus, dass Timm Dietrich auch beim Training regelmäßig 13, 14 Feldspielerinnen zur Verfügung hat und Spielsituationen in voller Mannschaftsstärke geübt werden können.
Die Ausgeglichenheit: Es sind viele Mosaiksteine, die in Summe den Erfolg begründen. Der große Kader bietet viele Möglichkeiten, zudem gibt es wenig Unterschiede beim Leistungslevel einzelner Spielerinnen. Neben der Startbesetzung hat Dietrich gleich mehrere Wechseloptionen, die sich nicht negativ auf Spielfluss oder Stabilität auswirken. Auffällig sind die guten Trefferquoten einzelner Spielerinnen und die Torgefährlichkeit auf verschiedenen Positionen insgesamt. 32 Treffer hat Werder bisher im Schnitt pro Spiel erzielt, in der Vorsaison waren es 27,5.
Die Heimstärke: In der Vorsaison hat Werder in 15 Heimspielen 15 Punkte abgegeben; die Klaus-Dieter-Fischer-Halle war weit davon entfernt, als Festung zu gelten. In der noch jungen Saison aber tritt Werder vor heimischer Kulisse bisher sehr dominant auf und behält dabei auch in heißen Phasen einen kühlen Kopf. Zuletzt gab es im Topspiel gegen den Vorjahres-Vizemeister Göppingen vor 400 Zuschauern einen bemerkenswerten 31:27-Erfolg. Und auch bei den Heimsiegen zuvor war keineswegs Laufkundschaft zu Gast: Regensburg (30:24) war in der Vorsaison Vierter, der HC Rödertal (35:29) Fünfter.
Die Torfrau: Wioleta Pajak ist die unumstrittene Nummer eins. Die im Sommer 2022 nach Bremen gekommene Polin ist die einzige Ausländerin im Team. Die 24-Jährige hat sich inzwischen auch sprachlich gut integriert und sich zudem sportlich enorm entwickelt. Pajak wehrt im Durchschnitt pro Partie 12,6 Bälle ab, das ist ein konstant guter Wert. Dabei zahlt sich zum einen die intensive Trainingsarbeit mit Janice Fleischer aus, zum anderen versteht sie es, die Wurfbildanalysen des Gegners gut für sich zu nutzen.
Die Analyse: Timm Dietrich gilt als akribischer Analytiker. Bis zu 20 Stunden pro Woche verwendet er allein darauf, Videomaterial zu sichten und auszuwerten. Er filetiert die kommenden Gegner regelrecht, arbeitet in der Spielvorbereitung die Stärken und Schwächen des jeweiligen Kontrahenten in Abwehr und Angriff detailliert heraus. Als ehemaliger Lehrer für die Fächer Deutsch und Geschichte gelingt es ihm zudem, seiner Mannschaft die Ergebnisse dieser Analyse inhaltlich verständlich zu vermitteln und die Spielerinnen bestmöglich auf den Gegner einzustellen.
Das Selbstvertrauen: Die Mannschaft hat sich durch die Auftaktsiege gegen Rödertal und Kirchhof für die intensive Arbeit in der Vorbereitung belohnt. Seither läuft es, seither ist das Zutrauen in die eigene Stärke enorm gewachsen. Die taktische Marschroute wird dabei konsequent umgesetzt, Dinge, die sich das Team im Training erarbeitet, werden auch in engen Spielsituationen mutig eingebracht. Zudem präsentiert sich die Mannschaft als homogene Einheit. Die Grundstimmung ist positiv, der Unmut vergangener Tage ist verflogen.
Die Antreiber: Natürlich hat auch Werder Spielerinnen im Aufgebot, die den Unterschied machen. Allen voran Kapitänin Denise Engelke, mit 31 Jahren die älteste und erfahrenste Spielerin im Team. Engelke führt im Aufbau Regie, setzt ihre Nebenleute in Szene (bisher 21 Torvorlagen) – und sie ist auch selbst torgefährlich (bisher 21 Tore). Beste Werferin ist derweil Rechtsaußen Elaine Rode mit 34 Treffern, davon 14 Siebenmeter. Ein wichtiger Eckpfeiler ist überdies Neuzugang Lara Niemann, die in den letzten beiden Spielen jeweils über die volle Distanz auf dem Feld stand und ebenfalls viel Verantwortung übernimmt.
Der Ausblick: Trainerteam und Mannschaft genießen die aktuelle Platzierung, sind aber geerdet genug, die Situation nüchtern zu analysieren. Es wird Niederlagen geben, das ist allen Beteiligten klar. Dennoch will Werder diese Serie noch weiter ausbauen. Angefangen mit einem Auswärtssieg am Sonnabend beim Aufsteiger in Freiburg. Werder reist als Favorit in den Breisgau – auch das ist neu. Mit jedem Sieg wird die Motivation zudem weiter steigen. Verfolger Nürtingen sowie Waiblingen und Harrislee, das sind die folgenden Gegner. Auch sie sollen Werders neue Stärke erleben. Personell kann das Team ab nächsten Februar sogar noch nachlegen, wenn Naomi Conze nach ihrer Weltreise sowie Chiara Thorn und Angelina Saur jeweils nach Kreuzbandriss wieder zur Verfügung stehen.