Sebastian Kohlwes versucht erst gar nicht, den Zwiespalt, in dem er steckt, zu verheimlichen. "Ich bin zufrieden, aber nicht glücklich mit meiner Entscheidung", sagt einer der erfolgreichsten Bremer Langstreckenläufer. Die Entscheidung, die ihm erkennbar nicht leichtgefallen ist, ist die Ankündigung seines Karriereendes. Mit 36 Jahren wird Sebastian Kohlwes Schluss machen mit dem Leistungssport, der ihm in den vergangenen 14 Jahren so viel gegeben, aber auch so viel abverlangt hat. "Ich möchte nicht mehr jeden Morgen fürs Training aufstehen müssen, ich fühle mich leer und alle", sagt der Mann, der als Bestzeit im Marathon 2:26 Stunden in den Papieren stehen hat.
Noch vor ein paar Wochen war Kohlwes von Sieg zu Sieg geeilt – Ende Mai beim 53. Himmelfahrtslauf in Heilshorn in 1:14:13 Stunden im Halbmarathon oder ein paar Tage vorher beim Wilstedter Nachtlauf über zehn Kilometer. Anfang Mai hatte der gebürtige Bassumer bei den deutschen Meisterschaften auf der Bahn in Hamburg über 5000 Meter Bronze in der Altersklasse M35 gewonnen. Und doch: Schon zu diesem Zeitpunkt beschäftigte sich Sebastian Kohlwes intensiv mit der Frage, wie lange er sich noch fürs Laufen quälen möchte.
Auf einmal war die Lust weg
Die Entscheidung brauchte Zeit zum Reifen. Bereits Anfang des Jahres vermisste Sebastian Kohlwes mehr und mehr die Motivation für seine Leidenschaft. Während der Vorbereitung auf den Hannover-Marathon habe er gemerkt, wie schwer ihm das Training fiel. Was sich darin äußerte, dass er beispielsweise eine auf 30 Kilometer angesetzte Laufrunde abrupt nach 22 Kilometern abbrach. "Ich habe einfach aufgehört zu laufen", sagt er, "ich hatte keine Lust mehr." Wenn er erst einmal aufgehört habe mit dem Laufen, sei es ihm auch nicht mehr möglich, es ein paar Minuten später wieder anzufangen. "Vom Kopf her kann ich dann nicht wieder einsteigen." Zumindest derzeit kann sich der 36-Jährige auch nicht vorstellen, dass er auf die Bühne der Leistungssportler zurückkehren wird.
Nach 14 Jahren, in denen der frühere Fußballer des TSV Bassum und des TVE Nordwohlde phasenweise sogar an sieben Tagen in der Woche trainieren konnte, wusste Sebastian Kohlwes nur zu genau, wie sich Lust auf Training anfühlte. Jetzt machte er die gegensätzliche Erfahrung, gegen die er auf keinen Fall anarbeiten möchte. "Leistungssport ist mit Aufwand verbunden, aber der Aufwand, um mein Niveau zu halten oder gar zu verbessern, ist immens." Erschwerend sei hinzugekommen, dass er sein komplettes Programm fast immer alleine durchgezogen habe. Und Schichtdienst, in Kohlwes' Fall bei Mercedes-Benz, erleichtert Leistungssport auch nicht gerade.
"Ich möchte den Druck nicht mehr haben, rauszumüssen", sagt Kohlwes. Es tue gut, nun zu einer Entscheidung gekommen zu sein und sie öffentlich gemacht zu haben. "Aber der Gedanke, bald nicht mehr das auszuüben, was ich gut kann, tut sehr weh." Grundsätzlich mache ihm das Laufen ja Spaß. Er habe durchs Laufen auch so viel gewonnen – wobei er nicht die Medaillen und Pokale meint. "Das Laufen war auch gut für mein Selbstbewusstsein", sagt er, "ich habe tolle Menschen kennengelernt, die mir heute noch sehr wichtig sind." Mit seinem ersten Trainer beim LC Hansa Stuhr, Hartmut Selz, ist er seit Langem eng befreundet.
Die Benefits des Laufens waren die eine, die schöne Seite der Medaille, die zahlreichen Entbehrungen die andere. "Ich konnte mich immer voll und ganz auf meinen Sport konzentrieren", sagt Sebastian Kohlwes, "aber oft musste ich dafür auch auf schöne Sachen verzichten." Wenn Freunde feiern gingen, dachte er an die Vorbereitung auf seinen nächsten Wettkampf. Leistungssportler können ein Lied davon singen, was sie alles nicht machen dürfen.
Das soll ab Oktober dieses Jahres anders werden. "Ich habe genug erreicht, Titel gewonnen und bin tolle Zeiten gelaufen", sagt Kohlwes, "wenn ich künftig nicht mehr laufen will, lasse ich es bleiben. Vielleicht finde ich den Spaß am Laufen wieder." Runterfahren von 100 auf null kann er natürlich nicht – "schon aus gesundheitlichen Gründen nicht." Um keine Schäden zu riskieren, muss er abtrainieren. "Ganz ohne laufen kann ich auch nicht, aber ich werde nicht mehr täglich laufen." Bei diesen Worten ist einmal mehr zu spüren, wie groß die Erleichterung für Sebastian Kohlwes nach seiner Entscheidung ist.
Nun also befindet sich der Läufer auf seiner Abschiedstournee. Dreimal will er in seiner Karriere noch starten, dreimal dürfte es emotional werden. Vielleicht auch wieder mit Tränen verbunden – so wie 2017 in Berlin, als er unter den Augen seiner Eltern seine Marathon-Bestzeit aufstellte. "Sie hatten nicht erwartet, dass ich so schnell laufen kann – und ich selbst hatte es auch nicht erwartet." Am kommenden Sonnabend wird Berlin die drittletzte Etappe seiner Karriere sein. Wieder über die zehn Kilometer auf dem Ku'damm – also dort, wo Sebastian Kohlwes mit 30:47 Minuten persönliche Bestzeit auf dieser Distanz gelaufen ist.
Über 10.000 Meter, dann auf der Bahn, geht es zwei Wochen später auch in Hamburg. Mit der Jahnkampfbahn verbindet Kohlwes gute Erinnerungen aus dem Mai dieses Jahres, als er DM-Bronze über 5000 Meter gewann. Auf der vorletzten Etappe des Läufers steht die Norddeutsche Meisterschaft an. "Danach werde ich entscheiden, welche Distanz ich in Bremen laufe."
Bremer Marktplatz als letzte Bühne
Ausgerechnet in seiner Wahlheimat, in der er seit etwa 15 Jahren lebt und in der er das Trikot des SV Werder und zuletzt des ATS Buntentor getragen hat, wird Sebastian Kohlwes möglicherweise zum letzten Mal in seinem Leben um eine gute Zeit laufen. Der Auftritt am 5. Oktober beim 20. swb-Marathon dürfte sehr emotional werden, wenn Familie, Freunde und langjährige Wegbegleiter einen der besten Bremer Langstreckler auf dem Marktplatz aus dem Leistungssport verabschieden.