Eigentlich war das nicht so gut. Filimon Gezae ist vom Start weg allen davon gerannt, ist als Sieger des Vegesacker Citylaufes über zehn Kilometer schon nach 32:33 Minuten wieder im Ziel gewesen. Viel zu schnell. Es sollte am vergangenen Sonnabend in Vegesack doch nur ein Vorbereitungslauf sein, quasi ein schnelles Training. Vielleicht so 35, 36 Minuten. "Das wird er merken am Sonntag", sagt Torsten Naue, sein Betreuer bei der LG Nord. Naue ist schon so lange drin in der Laufszene, er kennt sich aus. Er muss da jetzt mal etwas bremsen, was die Aussichten für Sonntag betrifft. Sonntag ist Hannover-Marathon. Filimon Gezae sagt, er fühle, dass er über die 42,195 Kilometer eine Zeit von 2:20 Stunden schaffen kann. "Vielleicht auch 2:16", sagt er. "Ho, ho", sagt Naue, "immer mit der Ruhe." 2:27 wäre schon richtig gut für Gezaes erstes richtiges Marathon-Rennen.
Dass hier ein Trainer seinem Athleten weniger zutraut als der sich selbst, wäre aber irgendwie die falsche Geschichte über diesen Filimon Gezae, der bald 27 Jahre alt wird und vor gut sechs Jahren nach Bremen kam. Er kam aus Eritrea, er riskierte sein Leben bei der Flucht übers Mittelmeer – und wurde in Bremen zu einem der schnellsten Läufer weit und breit. Er ist kein Laufprof. Auch er hat einen Alltag außerhalb des Trainings zu wuppen. Er arbeitet von 23.45 Uhr bis 6.15 Uhr. Nachtschicht bei Amazon in Achim. Da fährt er fünfmal pro Woche von seiner Wohnung in Marßel aus hin. Zuvor hatte er eine Lehre als Bäcker abgebrochen.
Eine Arbeit zu finden und eine Wohnung, Deutsch zu lernen: Da haben sie ihn sehr unterstützt bei der LG Nord, sagt Torsten Naue. Das sei auch erst mal das Wichtigste in Deutschland gewesen, sagt auch Filimon Gezae. Das Laufen? "Das ist inzwischen auch sehr wichtig geworden", sagt er. Vier-, fünfmal die Woche trainiere er, er laufe gerne durch die Natur. Mal Richtung Bremerhaven, mal Richtung Osterholz-Scharmbeck. Rund 130, 140 Kilometer kämen wöchentlich zusammen.
In Eritra war er kein Läufer. Er sei Radrennen gefahren, bevor er mit 15 das Rad zuhause lassen und zum Militärdienst gehen musste, erzählt er. Alle 15-jährigen Jungen müssten das in dem Regime. "In Eritrea", sagt er, "gibt es keine Freiheit. Es gibt nur Krieg." Er wollte das nicht mehr. Sein Leben sollte nicht aus einem umgeschnallten Gewehr bestehen. Zusammen mit zwei Freunden habe er beschlossen wegzugehen. Was gefährlich war und was wörtlich zu nehmen ist: Sie seien vier Tage lang gegangen, vorwiegend nachts. Dann war das Trio im Sudan. Erst von dort aus habe er Kontakt zu seiner Familie aufgenommen und von der Flucht berichtet. Er habe sechs Geschwister, sagt Filimon Gezae.
Die weitere Flucht, so wie er sie schildert: Im Sudan traf er auf Schlepper. Deren Preis, um bis nach Europa, und zwar nach Italien, zu kommen: 3300 Dollar. Ein Onkel aus Israel zahlte. Vom Sudan ging es nach Bani Walid im Norden Libyens. Der Ort gilt als eine Art Zwischenstopp für Migranten, in dem Menschenschmuggler oder Milizen riesige Gefängnisse unterhalten. Zwei Monate lange habe er in einer großen Halle voller Menschen zugebracht, sagt Gezae. Nach draußen habe man nur zur Toilette oder ausnahmsweise mal zur Dusche gedurft.
In Tripolis legte dann das Boot Richtung Italien ab. 456 Menschen seien darauf gewesen. Auch Frauen, Kinder, Alte. Filimon Gezae hatte quasi doppelt Glück. Er wurde aufs Oberdeck gesetzt. Wäre das Boot untergegangen, hätte es ihm unter Deck wahrscheinlich wenig genutzt, dass er schwimmen kann. Ein Verwandter von ihm, der kurz nach ihm die Flucht übers Mittelmeer gewagt habe, sei ertrunken. Glück Nummer zwei: Nach acht Stunden griff sie ein Schiff aus Spanien auf – und brachte sie nach Italien. Es war eine Rettung kurz vor der Katastrophe. Das Wasser im Unterdeck stand bereits kniehoch. Lange hätte es nicht mehr gedauert, bis das Boot gesunken wäre. Die Schlepper hatten irgendwann auf dem Meer gefragt, ob jemand das Boot fahren könne. Dann verschwanden sie.
Mit Zwischenstation in München landete Filimon Gezae schließlich in einem Flüchtlingsheim in Blumenthal. Ein Rennrad zu kaufen, um wieder seinen Sport von früher zu betreiben, schied aus. Viel zu teuer. "Ach, Sport ist Sport", habe er sich gesagt. Er knüpfte an das an, was er beim Militärdienst mal probiert hatte: Laufen. Eine Frau aus Äthiopien stellte den Kontakt zur LG Nord her.
Für die rennt er seither, und inzwischen rennt er oft vorneweg. Neulich, als es im Rahmen der Bremer Winterlaufserie über 20 Kilometer ging, dauerte es viele Minuten. Erst dann war der Zweitbeste nach Filimon Gezae im Ziel. Der träumt jetzt davon, den Marathon mal in einer Zeit von 2:10 Stunden zu schaffen. Das wäre olympiareif und um 14 Minuten schneller als der bereits 36 Jahre alte Bremer Landesrekord. Gezaes Vorbilder haben klangvolle Name in der Laufszene: Eluid Kipchoge aus Kenia ist zweifacher Marathon-Olympiasieger. Zersenay Tadese, Landsmann aus Eritrea, holte über 10.000 Meter einst WM-Silber und Bronze bei Olympia.
2:10 Stunden im Marathon – da müsste er noch mehr trainieren, das wird wirklich schwer, das zu schaffen. Niemand kann sagen, wie realistisch das ist. Der Weg scheint noch weit. Andererseits: Das vermeintlich beste Marathon-Alter kommt erst noch. Und, nun ja: Er hat doch schon so viel geschafft.