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Gewalt im Bremer Jugendfußball Sogar Eltern bekamen Angst

Gewalt im Jugendfußball: Ein Bremer Fall zeigt, wie bedrohlich die Situation auf dem Platz werden kann. Eltern, Trainer und Spieler sind besorgt und fordern Veränderungen. Einblick in eine eskalierende Lage.
12.04.2024, 12:00 Uhr
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Sogar Eltern bekamen Angst
Von Jean-Julien Beer

Susanne ist eine Lehrerin Ende 50 und hat vier Söhne, die alle fußballbegeistert sind. Sie hat Sport studiert und schon als Schiedsrichterin gepfiffen. Was die Mutter eines Findorffer Jugendfußballers in dieser Saison erlebte, empfand sie als „sehr bedrohlich“. Ihr kompletter Name soll nicht in der Zeitung stehen, bittet sie – aus Sorge vor unabsehbaren Folgen. Schweigen möchte sie aber nicht, im Gegenteil: „Ich bin seit 35 Jahren auf Bremer Sportplätzen und in Turnhallen unterwegs. Die Hemmschwelle für Gewalt sinkt immer mehr. Es kann so nicht weitergehen.“

Das Jugendspiel, das die Mutter schockierte, beschäftigte auch das Sportgericht des Bremer Fußball-Verbandes, nachdem der Schiedsrichter die Partie abgebrochen hatte. Es fügt sich ein in die Skandale und Krawalle dieser Saison, die zuletzt zur Absage eines kompletten Spieltages führten. Das Beispiel zeigt aber auch, dass die Urteile der Sportgerichte und der Schiedsrichtermangel zu noch mehr Verdruss führen können.

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Was in jenem Auswärtsspiel der B-Junioren der SG Findorff im Oktober 2023 beim ESC Geestemünde passierte, lässt sich auf einem Video anschauen, das die Eltern mit dem Handy aufgenommen haben. Kurz vor Spielschluss, die Findorffer machten gerade aus einem 2:4-Rückstand ein 4:4, kommt es zu einem Foul, in dessen Folge einer der Bremer Jungs gepackt und zu Boden geschleudert wird. Dann stürmen mehr als 30 Jugendliche von der Tribüne aus aufs Feld.

Sie tragen fast alle Jeans und dunkle Oberteile, es wird laut und unübersichtlich. Ein Findorffer Spieler wird nun mindestens einmal mit der Faust geschlagen. Ein Findorffer Vater, der sich ebenfalls bei unserer Redaktion gemeldet hat, überlegt wegen des Platzsturms, von der Tribüne aus die Polizei zu rufen. Nur weil ein Verantwortlicher von Geestemünde auf dem Feld deeskalierend eingreift, ruft er sie nicht. Auch der Vater möchte nicht genannt werden, aus Angst vor negativen Auswirkungen für ihn oder seinen Sohn. Während des Spiels saß er neben den fremden Jugendlichen. Der Vater erzählt: „Die Situation war sehr aufgeheizt. Beim Platzsturm wirkte es so, als habe die Gruppe nur darauf gewartet, auf den Platz rennen zu können. Aggressiv, nach dem Motto: endlich Randale, endlich Keilerei. Das wirkte bedrohlich.“

"Völlig irre und gefährlich"

Auch der Findorffer Trainer, Rolf Hagelstein, läuft aufs Spielfeld, um eine Rudelbildung zu verhindern. Als er sich umgeben sieht von immer mehr Jugendlichen ohne Sportkleidung, ruft er dem Schiedsrichter zu: „Du musst das hier abbrechen, das entgleitet total.“ Der Schiedsrichter habe die Lage beruhigen wollen. Vergebens. Hagelstein, ein erfahrener Trainer, empfindet die Situation in dem Moment als „völlig irre und gefährlich“. Schon im Spiel sei es ruppig zugegangen, es wurde gefoult und gespuckt. Jetzt holt Hagelstein seine Spieler vom Feld.

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Der Schiedsrichter habe später gefragt, ob er das 4:4 als Endergebnis eintragen solle. Hagelstein besteht darauf, dass der Spielabbruch festgehalten wird. Die Rolle des Schiedsrichters war an diesem Tag ohnehin schwierig. Denn der Schiedsrichtermangel führt dazu, dass bei solchen Spielen gar kein Unparteiischer eingeteilt wird. Meistens, wie in diesem Fall, pfeift jemand vom gastgebenden Verein. Auch das sollte hier später noch eine Rolle spielen.

Susanne, die Mutter, hatte vor der Heimfahrt noch ein besonderes Erlebnis zu verdauen. Sie war hinter den Jugendlichen aufs Feld gelaufen, um sicherheitshalber zu filmen. Vor Aufregung drückte sie aber nicht den Startknopf ihres Mobiltelefons. Nach dem Spielabbruch kam einer der Jugendlichen „mit seinem Handy bis auf 50 Zentimeter an mich heran“, erzählt sie, „und dann sagte er: So, jetzt habe ich dein Gesicht.“ Das habe ihr Angst gemacht. „Da wird einem ganz anders. Ich habe eine Menge erlebt als Lehrerin, Schiedsrichterin, Trainerin und Mutter – aber so etwas nie. Es ist eine klare Tendenz, dass im Jugendfußball auch direkte Drohungen gegenüber Beteiligten massiv zunehmen.“

Latente Gewalt hat es im Fußball immer gegeben. Aber dieses Ausmaß ist eine neue Qualität, das muss man so deutlich sagen.
Jugendtrainer Rolf Hagelstein

Das empfindet auch Hagelstein so. „Ich trainiere seit 31 Jahren Erwachsene und Jugendliche“, erzählt er, „latente Gewalt hat es im Fußball immer gegeben. Aber dieses Ausmaß ist eine neue Qualität, das muss man so deutlich sagen.“ Noch auf der Rückfahrt hegten die Findoffer Jugendspieler die Hoffnung, der Verband würde sie unterstützen, das zeigen die Nachrichten in ihrer WhatsApp-Gruppe. Doch sie äußern auch Zweifel, weil der Schiedsrichter vom gastgebenden Verein kam. Als die SG Findorff wenig später den Strafantrag des Verbandsjugendausschusses erhält, fallen alle vom Glauben ab: Ihr Teamkamerad, der nach dem Foulspiel zu Boden geschleudert wurde, soll für zehn Spiele gesperrt werden, längstens bis Ende Juni 2024. Fünf Spiele würden zur Bewährung ausgesetzt, wenn sich der Spieler, der bis dahin nie eine gelbe oder gar rote Karte gesehen hatte und der als fairer Spieler bezeichnet wird, bei der Stelle für Gewaltprävention des Bremer Fußballverbandes melde.

Im Verein geht es nun hoch her. „Die Spieler waren von diesem Strafmaß geschockt, sie konnten damit nicht umgehen“, berichtet der Vater. Auch wenn das Sportgericht die Strafe nach heftigem Widerspruch auf fünf Spiele Sperre reduzierte, machte es das nicht besser. „Der Verband war die Instanz, von der unsere Jungs Unterstützung erhofften“, sagt der Vater. Ohnmacht und Zorn hätten sich breitgemacht. Der Verband, der zwar nichts für die Situation auf dem Spielfeld konnte, habe mit dem ungerechtfertigten und nicht nachvollziehbaren Strafmaß Wut und Unverständnis bei den Kindern erzeugt: „Das kann doch keiner wollen. Auch damit macht man den Sport und das Freizeitvergnügen kaputt.“

Das Vertrauen in die Sportgerichte wackelt

Trainer Hagelstein nennt es „ein strukturelles Problem“, dass sich die Sportrichter auch auf das verlassen müssen, was im Bericht des Schiedsrichters steht. Doch dieser Bericht habe nicht den Tatsachen entsprochen. Alle, die aus Findorff dabei waren, sprechen von verdrehten Tatsachen. Hagelstein sagt es so: „Das Opfer wurde zum Täter gemacht. Fünf Spiele Sperre sind die Welt für einen Jungen, der nichts getan hat. Wie wollen sie das glaubhaft vermitteln? Wir haben das Vertrauen in die Sportgerichtsbarkeit total verloren.“

Ihn ärgert, dass der Verband so meist zwangsläufig pro Heimverein urteile und nicht alle Umstände einfließen lasse. Das Video zum Beispiel, die Fairplay-Tabelle oder den Spielverlauf: „Eine Mannschaft, die gerade das 4:4 erzielt hat, sorgt doch nicht für einen Spielabbruch.“ Seine Forderung: „Der Verband sollte sich wieder der Realität an der Basis zuwenden, er darf sich nicht abkapseln. Der Verband weiß eigentlich sehr genau, wer im Bremer Fußball Probleme verursacht.“ Nur eine Woche später nämlich wurde auch das nächste Spiel der Geestemündener B-Jugend abgebrochen, diesmal gegen Weyhe-Stuhr II. Nach einem Elfmeter-Pfiff, so steht es in den Akten des Verbandes, hatte ein Spieler von Geestemünde dem Schiedsrichter gedroht: „Dich bringe ich um!“

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