Herr Wellbrock, Sie haben mit Ihren fünf WM-Medaillen in Budapest den Uralt-Rekord von Albatros Michael Groß aus dem Jahr 1982 eingestellt. Darüber ist viel berichtet worden, doch wie schätzen Sie selbst diesen historischen Erfolg ein?
Florian Wellbrock: Es war für mich gar kein Ansporn, diesen Albatros-Rekord einzustellen. Für die Leute, die dem Schwimmsport länger verbunden sind, mag das natürlich etwas Großes sein. Für mich sind die Erfolge auch etwas Großes, keine Frage. Aber ich bringe das nicht mit dem Albatros-Rekord in Verbindung.
Die Tragweite war Ihnen also gar nicht so bewusst?
Nein, denn die Schwimmhelden meiner Zeit waren Paul Biedermann und Britta Steffen, vielleicht noch Franziska van Almsick. Mein Hauptziel war es, bei der WM eine gute Performance hinzulegen. Und mit dem Ergebnis bin ich sehr zufrieden.
Sie wurden von der Deutschen Sporthilfe als Sportler des Monats Juni ausgezeichnet und waren unter anderem zu Gast im „Aktuellen Sportstudio“. Wie haben Sie dieses öffentliche Interesse in den Tagen nach der WM erlebt?
Medial hat das schon recht große Kreise gezogen. Eins meiner Instagram-Bilder wurde sogar von Bayern-Profi Thomas Müller kommentiert – es war schon viel Aufmerksamkeit vorhanden.
In knapp drei Wochen beginnt mit der EM in Rom bereits der nächste hochkarätige Wettbewerb. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet? Waren Sie noch im Trainingslager?
Das Trainingslager war angesetzt, doch das musste ich leider ausfallen lassen, da ich mich relativ zeitig nach der WM mit Corona infiziert hatte. Da war ich erst einmal eineinhalb Wochen raus und bin jetzt auch erst seit einer guten Woche wieder im Training. Zählt man die WM und die Vorbereitung dazu, habe ich sechs, sieben Wochen nicht richtig trainiert, das merkt man im Wasser nun sehr deutlich.
Wir stark hatte es Sie erwischt?
Es war wie eine starke Grippe. Ich hatte Halsschmerzen, Husten und Fieber. Und das merke ich jetzt auch noch im Training. Dem Körper fehlt die Substanz. Ich muss nun abwarten, wie schnell ich mich davon erhole und wie wir in den nächsten Wochen weitermachen können.
Geplant ist bisher, dass Sie bei der EM fünfmal an den Start gehen. Die Disziplinen im Becken und im Freiwasser sind dabei identisch zur WM. Hat die Corona-Erkrankung womöglich Auswirkungen auf Ihre Teilnahme?
Das kann man jetzt noch nicht beantworten, denn dafür stehen noch zu viele Fragezeichen im Raum. Wir müssen die Trainingsergebnisse der nächsten Tage abwarten und dann vielleicht die Ziele anpassen. Vielleicht konzentrieren wir uns nur aufs Beckenschwimmen oder aufs Freiwasserschwimmen. Sollte man nächste Woche feststellen, dass ich in guter Form bin, dann könnte die Zielstellung natürlich ähnlich aussehen wie bei der WM. Sollte das aber nicht der Fall sein, müsste man vielleicht sogar darüber nachdenken, den EM-Start komplett abzusagen.
Sie werden diese Entscheidung dann zusammen mit Ihrem Trainer Bernd Berkhahn treffen?
Natürlich werden wir uns abstimmen, allein geht das nicht. Ich verlasse mich dabei auf seine Kompetenz. Und er braucht eine Einschätzung von mir, was mein Körpergefühl sagt.
Gibt es einen zeitlichen Rahmen? Bis wann soll es Klarheit geben?
Ich denke bis Ende nächster, Anfang übernächster Woche.
Haben Sie denn nach der WM und vor der Corona-Infektion zumindest mal ein wenig abschalten und auch mal Fünfe gerade sein lassen können?
Ja, ich hatte ein paar Tage zum Verschnaufen. Da war ich auch noch mal in Bremen bei meinen Eltern. Aber Zeit für Urlaub hatte ich nicht.
Wenn alles nach Plan läuft, stehen für Sie in Rom neben Starts im Becken auch die Freiwasserrennen an. Können Sie mal beschreiben, was den Unterschied ausmacht zwischen 800 Meter im Becken und einem Zehn-Kilometer-Marathon im Freiwasser? Worauf kommt es an?
Neben Physis und Technik sind es ganz viele Faktoren. Mentale Stärke benötigt man in beiden Disziplinen, auf der Marathonstrecke muss man sie einfach nur länger halten können. Der größte Unterschied ist natürlich das Becken selbst. Man hat immer seine Bahn und das gleiche warm temperierte Wasser, während man sich im Freiwasser auch auf die Gegebenheiten vor Ort wie Strömungen und Wellen, Regen und Sonne einstellen muss. Im Freiwasser muss man flexibler und gelassener sein.
Sie haben ein 800-Meter-Rennen mal als kurzen, adrenalingeladenen Actionfilm bezeichnet. Was ist im Vergleich dazu ein Rennen über die Langdistanz im Freiwasser?
Auf jeden Fall geht es viel ruhiger und gelassener zu. Die Anspannung vor einem Freiwasserwettkampf ist auch ganz anders. Bei einem Beckenrennen über 800 Meter etwa kribbelt es, da muss der Start passen, sonst hat man keine Chance mehr, um eine Medaille zu schwimmen. Wenn ich aber bei einem Zehn-Kilometer-Rennen den Start vermassle, habe ich immer noch 1:50 Stunden Zeit, um das wieder gutzumachen.
Herr Wellbrock, Sie gelten als Wettkampftyp, als Champion, der nie satt wird. Können Sie mit dieser Kurzbeschreibung leben?
Ja, definitiv. Das würde ich unterschreiben. Sonst hätte ich ja nach dem Olympiasieg auch aufhören können. Das möchte ich aber noch nicht. Ich bin noch nicht satt. Ich habe immer noch meine Ziele, meine Wünsche, meine Träume – und deshalb mache ich auch noch ein bisschen weiter.
Was genau spornt Sie denn an? Woher nehmen Sie diesen unbändigen Hunger nach Titeln? Die Aussicht auf 3000 Trainingskilometer oder mehr im Jahr wird es ja nicht sein…
Tatsächlich auch irgendwie. Ich habe immer noch Spaß am Trainingsprozess. Ich mag es, mit der Trainingsgruppe zu agieren und unterwegs zu sein, Trainingslager zu absolvieren. Hauptfaktor ist aber der Wunsch, ein Rennen zu gewinnen. Die Arme hochreißen zu können. Sagen zu können: Ich bin heute der Beste der Welt. Das war auch nach meinem Kurzbahnweltrekord im vergangenen Dezember so. Da habe ich gedacht: Cool – und weiter geht’s. Ich bin motiviert, ich habe Lust, ich habe Freude am Sport.
Gibt es auch eine Sehnsucht, die Nationalhymne hören zu wollen?
Natürlich ist das ein schöner Nebeneffekt, aber der Moment, der mich am meisten reizt, ist der Moment direkt nach dem Anschlag. Da kann man seine Freude rausschreien und der ganzen Welt zeigen: Ich hab’s heute geschafft.
Nun war das Abschneiden bei der WM sicherlich phänomenal. Doch was bedeutet das für die EM? Wie groß ist der Erfolgsdruck, wie gehen Sie mit den Erwartungen um?
Tatsächlich relativ gelassen. Mit dem Erwartungsdruck von außen hatte ich vor den Olympischen Spielen auch nicht wirklich Probleme. Und vor einer EM komme ich damit noch viel, viel besser klar. Für mich ist es wichtig, dass ich meinen eigenen Anforderungen gerecht werde. Ich kann das am besten einschätzen. Ich weiß vor Ort am besten, was möglich sein wird und was nicht. Da könnte sich eine Bronzemedaille für mich am Ende auch wie Gold anfühlen.
Sie sind dank Ihrer Erfolge inzwischen die Galionsfigur des deutschen Schwimmsports. Gefällt Ihnen diese Rolle als Aushängeschild?
Ja, ich fühle mich schon wohl in der aktuellen Position. Ich merke natürlich, dass ein paar Athleten zu mir aufschauen. Und wenn sie Fragen haben, setze ich mich auch gerne mit ihnen auseinander.
Sie werden am 19. August 25 Jahre alt. An dem Tag findet das Freiwasserrennen über zehn Kilometer statt. Vorausgesetzt, Sie starten in Rom: Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, wie Sie Ihren Geburtstag gestalten werden?
Da muss ich passen. Klar habe ich auf dem Zettel, dass ich nächsten Monat Geburtstag habe. Aber ich habe nicht gewusst, dass an dem Tag das Zehn-Kilometer-Rennen ist. Ich mache das immer Step by Step und schaue mir den Wettkampfkalender erst kurz vor der Abreise an. Deshalb ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass beides auf einen Tag fällt.
WM in Japan 2023, Olympische Spiele 2024 in Paris – es stehen absehbar weitere Höhepunkte und Herausforderungen auf dem Wettkampfkalender. Wie weit schauen Sie voraus, wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus?
Ich bin ein Mensch, der für den Moment lebt. Ich habe jetzt erst mal die Europameisterschaft vor der Nase. Dann beschäftige ich mich mit der Kurzbahn-WM im Dezember in Australien. Japan und Paris sind da noch ganz weit entfernt, daran verschwende ich noch keine Gedanken.