Noch vor wenigen Tagen hatte er sich wieder eingemischt. Willi Lemke hatte im WESER-KURIER vom olympischen Kartenpech der Wellbrocks gelesen, den Eltern des Bremer Schwimmers Florian Wellbrock. Willi Lemke fand das so schade, dass die Eltern den 1500-Meter-Vorlauf ihres Jungen nicht live in der Halle verfolgen können, obwohl sie doch vor Ort in Paris waren. Willi Lemke wollte helfen, er funkte von Bremen aus all seine Sport-Kontakte an, die ihm einfielen, damit die Wellbrock-Eltern doch noch Karten bekommen für die Arena "La Defense" in Paris.
Von der Episode muss komplett im Präteritum berichtet werden. Wilfried Willi Lemke ist tot. Wie seine Familie am Dienstag mitteilte, ist er am Montag mitten aus dem Leben gerissen worden, kurz vor seinem 78. Geburtstag. Er starb an einer Hirnblutung. "Sein Tod macht uns sehr traurig und fassungslos, aber wir hatten das große Glück, dass wir ihn in seinen letzten Lebensstunden gemeinsam begleiten konnten", heißt es in der Mitteilung. Die Angehörigen bitten darum, "die Privatsphäre unserer Familie zu respektieren und von Anfragen aller Art abzusehen. Wir werden zu gegebener Zeit mitteilen, wo und in welcher Form Freunde und Weggefährten sich von ihm verabschieden können". Willi Lemke hinterlässt seine Frau Heide und vier Kinder.
"Die Eltern müssen doch ihren Jungen bei Olympia schwimmen sehen!" Wer Willi Lemke nicht kannte, wer nichts von ihm wusste, würde in diesem Engagement schon mal eine sehr gute Beschreibung finden über den Menschen, der nun so plötzlich nicht mehr da ist. Doch wer kannte diesen Menschen nicht in Bremen? Sich engagieren, sich einsetzen, einfühlen, einmischen; für eine Sache streiten und kämpfen, wenn es sein muss, auch mit harten Bandagen: Wenn man so will, war dieser Willi Lemke für diesen Typ Mensch der Prototyp. Um einen Kommentar nie verlegen, immer auf Achse, volksnah.
Wem irgendwo auf dieser Welt Bremen einfiel, dem fiel das vielleicht ein, weil er Werder kannte, den Roland oder die Stadtmusikanten – oder eben auch diesen Willi Lemke. Geboren in Pönitz, aufgewachsen in Hamburg und in Bremen seit Jahrzehnten so bekannt wie kaum ein anderer. Weil er immer, um es bildhaft zu sagen: im Auge des Orkans war. Als Werder-Manager, als Senator, als UN-Sonderbotschafter. Weil er sozusagen immer am Start war. Man konnte ihn treffen bei Volksfesten, bei Volksläufen, beim privaten Joggen im Bürgerpark. Er war ein gut sichtbares Mitglied des Stadtlebens. Irgendwie war er einer für alle. Als Bremer darf man wohl sagen: Er war unser Willi.
Weit über die Stadtgrenzen hinaus wurde er bekannt als der Mann, der dem womöglich mächtigsten Mann im deutschen Fußball die Stirn bot. Die Fehde mit Bayern-Manager Uli Hoeneß brachte dem Werder-Manager Willi Lemke nicht nur dicke Sympathiepunkte, als glühender Anwalt des armen Fußball-Nordens gegen den reichen Fußball-Süden. Der Zwist trug, jawohl, in den 1980er und 1990er-Jahren auch zum großen Marketingerfolg des deutschen Lieblingssports bei. Lemkes Anteil an diesem Erfolg, allgemein für den deutschen Fußball und speziell für den SV Werder, zählt zu seinen großen beruflichen Verdiensten – und die große Fehde mit Hoeneß endete mit der großen Versöhnung, als der Bayern-Grande völlig unverhofft als Ehrengast zu Lemkes 70. Geburtstag in Bremen erschien.
Die Aufteilung mit Trainer Otto Rehhagel in der Erfolgsära vor 30,40 Jahren war so simpel wie genial. Rehhagel kümmerte sich um die Spieler, Lemke kümmerte sich um den Rest. Wozu auch gehörte, dass Lemke sich kümmerte, wenn Spieler außerhalb des Spielfelds Probleme bekamen oder machten. Lemke war ein Kümmerer, für die Spieler und deren Familien, für die Angestellten des Vereins, für so viele, die er kannte oder die ihn ansprachen.
Doch die vielen und großen Fußballerfolge sind nur ein kleiner Ausschnitt aus einer fast einzigartigen Karriere. Der bekannte Bremer Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel erinnert "an seinen großartigen Einstieg in Bremen": Willi Lemke sei Anfang der 1970er-Jahre als junger, wissenschaftlicher Planer für den Sport an die neu gegründete Bremer Universität gekommen. Der junge Sozialdemokrat habe dafür gesorgt, "dass die von Gründungselan getriebenen Lehrenden und Forschenden den Sport nicht vernachlässigen". Sport sei eines der Gründungselemente der Uni geworden.
Als Willi Lemke 1999 vom Fußball in die Politik wechselte und Bremer Bildungssenator wurde, wurde auch das eine nachhaltige Geschichte. Obwohl er sich im hoch verschuldeten Bundesland nicht eben ein leicht beherrschbares Ressort ausgesucht hatte, wurde er zweimal wiedergewählt in den Senat. Wurde auch Innensenator, erst interims-, dann turnusmäßig, und erhielt 2008 eine Art Krönung. Die Krönung zum Bremer Bürgermeister blieb ihm verwehrt. Lemke verlor die SPD-Abstimmung über den Spitzenkandidaten seiner Partei gegen Jens Böhrnsen. Aber er bekam ein Büro in New York und wurde UN-Sonderbotschafter. Vor allem aber war er nun an höchster Stelle wieder in dem Metier tätig, für das er sich zeitlebens eingesetzt hat und dem er so sehr verbunden war: dem Sport. Noch zwei Tage vor seinem Tod ist Willi Lemke joggen gewesen.