Warum die "Outsider" aus der letzten Wettfahrt ausgestiegen ist, wissen Justus Reinke und Marc Viehöfer vom Wassersportverein Aumund bis heute nicht. War es der Ärger der favorisierten Konkurrenz über den eigenen Manöverfehler im alles entscheidenden Rennen? War es die Einsicht, dass die "Halbtrocken 4.5" an diesem Tag einfach besser war? Die beiden Nordbremer Segler zucken mit den Schultern. "Ist auch egal", sagt Justus Reinke, denn am Ende des achten Rennens waren er, Marc Viehöfer und zehn weitere Crewmitglieder nach einer klasse Leistung vor dem estnischen Tallinn ORC-Weltmeister im Seesegeln.
Der 14. August 2021, der sechste und letzte Tag dieser WM nach dem Vermessungssystem des Offshore Racing Congress (ORC), wird für die beiden Nordbremer auf ewig ein besonderes Datum bleiben. Justus Reinke und Marc Viehöfer werden sich immer an den kräftigen Wind erinnern, der am Schlusstag mit fast 40 Stundenkilometern noch heftiger blies als an den Tagen zuvor. Und daran, wie sie abends unter dem Applaus der unterlegenen Konkurrenten in den Hafen einfuhren. Wie sie später Pokal und Medaillen erhielten und sich freuten, dass die Preisverleihung via Livestream übertragen wurde, sodass die Familienangehörigen zu Hause der Zeremonie beiwohnen konnten. Wie ergreifend der Moment war, in dem den Siegern zu Ehren die deutsche Nationalhymne gespielt wurde. Und wie die Weltmeister nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung zum gemütlichen Teil übergingen: dem Abendessen und der anschließenden rauschenden Partynacht.

Stolz präsentieren Justus Reinke (links) und Marc Viehöfer vom Wassersportverein Aumund ihre WM-Goldmedaillen.
Die Mannschaft der "Halbtrocken 4.5" von Skipper Michael Berghorn hätte ganz bestimmt auch einen WM-Vizetitel ausgelassen gefeiert. Doch als Außenseiter den ganz großen Coup gelandet zu haben, war für die Crew die Krönung einer einzigartigen Woche. In der größten und schnellsten Klasse den Titel gewonnen zu haben, war schon gut – aber noch besser war es, mit dem "nur" 45 Fuß langen Boot den 52-Fuß-Konkurrenten "Outsider" geschlagen zu haben. Justus Reinke berichtet davon, dass der Vorbesitzer die "Halbtrocken 4.5" auch deshalb an Michael Berghorn verkauft haben soll, weil sie angeblich nicht gegen sogenannte TP52-Boote bestehen könne. "Eine schöne Anekdote", sagt der 40-Jährige, der als Geschäftsführer auf der Lürssen-Werft auch beruflich mit Schiffen zu tun hat.
Gemeinhin gelten die großen Boote als die stärkeren. Sogenannte Messbriefe, in denen für jedes einzelne Boot Angaben über Segelgrößen, Tiefgänge, Gesamtgewicht der Mannschaft und der Ausrüstung erfasst sind, helfen dabei, die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Konkurrenten im Ergebnis einer Klasse vergleichbar zu machen. Technisch eigentlich benachteilige Boote erhalten Gutschriften für die am Ende berechnete Zeit, sodass nicht automatisch die Jacht gewinnt, die als erste über den Zielstrich fährt.
Die Tatsache, dass die "Outsider" in der letzten WM-Wettfahrt plötzlich gar nicht mehr dabei war, irritierte die Crew der "Halbtrocken 4.5" zunächst sehr. "Wir wussten gar nicht, was los war", sagt Marc Viehöfer, "und deshalb haben wir vorsichtshalber weiter Vollgas gegeben." Da beide Boote vor dem achten Rennen punktgleich in Führung gelegen hatten, war klar: Wer in dieser Wettfahrt den Konkurrenten hinter sich lässt, ist Weltmeister.
"Die Zieldurchfahrt war das beste Gefühl, das ich in meiner seglerischen Laufbahn je gehabt habe", sagt Justus Reinke. Sowohl für ihn als auch für Marc Viehöfer, der in Bremen Luft- und Raumfahrttechnik studiert und nebenbei als Rettungsschwimmer bei den Bremer Bädern arbeitet, ist es der erste WM-Titel. "Das hat man nicht alle Tage", sagt Viehöfer. Er hatte zuvor als bestes Ergebnis einen dritten Platz bei einer Europameisterschaft in seiner Bilanz stehen. Mit gewissem Stolz stellt der 32-Jährige fest, dass selbst etliche Profis, die üblicherweise bei Weltmeisterschaften im Einsatz sind, noch keinen Titel gewonnen haben. Auch die "Halbtrocken 4.5" hatte die Unterstützung von drei Profis an Bord, die im Gegensatz zu den anderen Crewmitgliedern ihr Geld mit Segeln verdienen.

Alle Mann auf eine Seite: die "Halbtrocken 4.5" in voller Fahrt.
"Für mich hat sich ein Traum erfüllt, den ich nie ausgesprochen habe", sagt Justus Reinke. Es sei ein echter Teamerfolg gewesen, "für den wir alle hart gekämpft haben". Und ein bisschen Glück hatte die "Halbtrocken 4.5" letztlich auch. Denn die Bedingungen, wie sie am Finaltag herrschten, hatte die Crew bei einem ihrer wenigen Trainingstage in diesem Jahr auf der Ostsee vor Neustadt (Schleswig-Holstein) schon einmal gehabt. "Es kommt ganz selten vor, dass man bei 20 Knoten Wind mal trainiert", sagt Marc Viehöfer. Vor Tallinn wurde jenes Training dann zum vielleicht entscheidenden Vorteil. "Das hatten wir doch schon mal in diesem Jahr", habe sich die Crew gesagt. Und während die "Outsider" eines ihrer Manöver für alle sichtbar völlig verpatzte, saß auf der "Halbtrocken 4.5" jeder Handgriff. "Wenn beispielsweise beim Runterholen des Gennakers mit seinen etwa 300 Quadratmetern Segelfläche etwas schiefgeht, kostet das gleich richtig viel Zeit", sagt Justus Reinke. Was immer auch auf der "Outsider" im Detail schiefgegangen war: Das Boot stieg aus dem Rennen aus.
Segeln habe, betont Justus Reinke, auch viel mit Psychologie zu tun. "Man macht immer kleinere Fehler", sagt er, "mal ist es eine zu frühe Wende, mal etwas anderes. Aber wir haben uns davon nie runterziehen lassen." Um sich nicht in epischen Diskussionen zu verzetteln, habe die Crew sich sogar auf ein Schlüsselwort verständigt: Reset. Die Abmachung lautete also: "Wenn uns etwas misslingt, lasst es uns schnell abhaken."

Eine 45-Fuß-Jacht wie die "Halbtrocken 4.5" benötigt eine große Crew, um schnell durch die See gebracht zu werden.
Auf der "Halbtrocken 4.5" misslang nichts Wesentliches. Das Schlimmste, an das sich Marc Viehöfer erinnert, ist das Vergessen seiner Schuhe am letzten Tag. "Ich hatte so viele andere Sachen im Kopf, die ich erledigen musste", sagt er lachend. Ohne Schuhe geht an Bord nichts, aber letztlich kostete das Umkehren wegen der Fußbekleidung die Crew vielleicht fünf Minuten – wohlgemerkt nicht in, sondern vor dem Rennen. "Vielleicht war es ein gutes Omen für uns", sagt Viehöfer. Muss wohl. Der WM-Titel widerspricht dieser These jedenfalls nicht.