Am späten Abend des 24. Juli hat sich Larissa Drygala vor den Rechner gesetzt und eine Mail an die Sportredaktionen von Radio Bremen und WESER-KURIER abgeschickt. Betreff: Abschied und DANKE. So steht es da, und allen, die die Nachricht lasen, drehte sich der Magen um. Trotz sieben Chemotherapien, vier Bestrahlungen und einer Stammzelltransplantation sei die Leukämie zurückgekommen. Dann der Satz: "Die medizinischen Mittel sind ausgereizt und ich werde mich meinem Schicksal ergeben müssen." Am Dienstag vergangener Woche ist die langjährige Landestrainerin, die Olympia-Kampfrichterin, die Misses RSG von Bremen, im Alter von 56 Jahren gestorben. Ihre letzten Tage hat sie in einem Hospiz verbracht. Die Szene ist traurig, so traurig. Larissa Drygala hinterlässt "eine tolle Familie", wie sie selbst schrieb. Ihren Vater, ihre Schwester, dazu den Hund Masha.
RSG steht für Rhythmische Sportgymnastik. Es ist die einzige Sportart, in der es einen Bremer Bundesstützpunkt gibt. Wer sich in Bremen mit dieser Sportart beschäftigt hat, wählte Larissa Drygalas Nummer. Sie war gemeinsam mit ihrer Mutter Gisela, die den Stützpunkt lange leitete, nicht nur von Beginn an dabei. Die Drygalas waren die, die alles regelten, sich um alles kümmerten. Ohne sie gäbe es womöglich gar keinen Stützpunkt mehr an der Uni, ohne sie gäbe es die vielen Bremer Erfolge bis hin zu Olympia- und WM-Teilnahmen nicht, ohne sie, gäbe es vielleicht noch nicht mal größere Berichte in der Zeitung. Selbst um die Pressearbeit hat sich Larissa Drygala gekümmert, war für die oft fachlich unbefleckten Reporter immer erreichbar, lieferte verlässlich Stoff, erklärte geduldig jede Detailfrage. Weil ja auch ein Nachruf nach einer griffigen Schlagzeile verlangt, kann über ihrem Nachruf kaum etwas anderes stehen als: Ein Leben für die RSG.
Und wie es das war. Sie habe ein Leben auf der Überholspur geführt, schrieb sie in besagter Mail. So hat man sie wahrgenommen: immer engagiert für ihren RSG-Stützpunkt, für ihre RSG-Mädchen. Immer lebendig, nie griesgrämig. Das Herz auf der Zunge, das Herz am rechten Fleck, wie man so gerne sagt. Und immer on fire und on tour, wie man zumindest neudeutsch auch gerne sagt. Manchmal habe sie nicht mehr gewusst, in welchem Land sie gerade aufgewacht ist, steht in der Mail. So oft hat sie der internationale Verband als RSG-Kampfrichterin angefragt. Genau weiß man das natürlich nicht, aber die Vermutung ist: Sie hat nur selten mal Nein gesagt. Einer der Höhepunkte ihrer Kampfrichter-Karriere: der Einsatz bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking.
Groß geworden als Leistungsgymnastin, als Trainerin bei Bremen 1860, beschränkte sich ab 2021 ihre Tätigkeit am RSG-Stützpunkt nicht nur auf die Funktion als Cheftrainerin. Sie übernahm auch noch das Amt der Landesfachwartin. Ihre Mutter war im Alter von 78 Jahren gestorben. "Ein Leben für die RSG, 24 Stunden am Tag", so sagt es auch Matthias Wiatrek, der aktuelle Leiter des Stützpunktes. "Uns hat die Entwicklung hier alle sehr erschüttert. Larissa hat quasi bis zum letzten Tag vor ihrer Krankenhauseinweisung voll mitgearbeitet und war auch vom Krankenbett immer einbezogen", sagt er.

Höhepunkt der Kampfrichter-Karriere: Larissa Drygala bei den Olympischen Spielen von Peking 2008.
Vom Krankenbett aus, das Larissa Drygala schon bald nach der Krebsdiagnose so viele Monate lang kaum noch verlassen konnte, meldete sie sich sogar noch bei den Medien, um weiter für ihre Gymnastinnen auch ein Stück Aufmerksamkeit zu ergattern. Sie verbarg dabei ihre Erkrankung nicht, das hätte auch nicht zu ihr gepasst. Sie ging den Kampf gegen den Krebs mit offenem Visier an, stellte jeden Tag bei Whatsapp in den Status, wie viele Tage seit der Diagnose vergangen sind. Und widmete selbst ihre letzte Nachricht an die Berichterstatter, in der sie ihr eigenes Lebensende ankündigte, ihrem großen Lebensthema: der Gymnastik. "Ich möchte mich für die tolle, vertrauensvolle Arbeit mit Ihnen allen bedanken... Ich würde Sie gerne bitten, auch meine Nachfolge mit so viel Freude und Respekt aufzunehmen, wie Sie mich vor Jahren 'aufgenommen' haben", mailte sie.
Kurz vor diesen Sätzen schrieb sie, dass "zum Glück" keine Wünsche übrig geblieben seien. Ein harter Satz, wenn man ihr Alter und ihren lebensbejahenden Charakter bedenkt. Nur der eine Wunsch sei übrig geblieben: dass die deutsche RSG nächstes Jahr bei den Olympischen Spielen in Paris eine Medaille abbekommt. Und dazu die Hoffnung, "dass sich das Bremer RSG-Team noch eine Weile erfolgreich und mit viel Teamgeist beweisen kann". Es gibt wohl niemanden im Bremer Sport, der Larissa Drygala nicht wünschen würde, dass es in Erfüllung gehen mag.