Mehr als zwei Tische und drei Stühle braucht es nicht für die szenische Lesung. Der triste, graue Beton des Bunkers Valentin bietet eine passende Kulisse, als ein dunkles Kapitel aus der Bremer Justiz aufgeschlagen wird. Es behandelt die Ermittlungen gegen den Lagerkommandanten Karl Walhorn, der im „Arbeitserziehungslager Farge“ von 1940 bis 1944 tätig war.
In Kooperation mit der Uni Bremen und der Heinrich-Böll-Stiftung führt die Bremer Shakespeare Company das Stück „Ich habe daher das Verfahren eingestellt“ vor dem Denkort Bunker Valentin auf, wobei Peter Lüchinger, Simon Elias und Markus Seuß ausschließlich Akten verlesen. Doch ihnen wohnt so viel Tragik inne, dass sie sich in Akte eines Theaterstücks verwandeln. Die szenische Lesung ist Teil des Programms des Vereins „Erinnern für die Zukunft“ und der Landeszentrale für politische Bildung Bremen.
Das „Arbeitserziehungslager Farge“ lag nur etwa zwei Kilometer vom Bunker entfernt und wurde von der Gestapo Bremen geführt. Es bestand von 1940 bis 1945, und in ihm sollten vor allem Menschen durch Zwangsarbeit diszipliniert werden, die durch angeblich „unzureichende Arbeitsleistung“ oder Widersetzlichkeit aufgefallen waren. Die Einweisungen nach Farge veranlassten zum Beispiel auch die Firmen Focke Wulf Flugzeugbau oder die Vulkan Werft in Bremen, doch auch viele Kriegsgefangene, zum Beispiel aus den Niederlanden, Belgien oder Dänemark, gelangten in das Lager.
Der Holländer Adriaan Roodvoets gab sich mit dem Dunkel, das viele verstorbene Häftlinge in Farge umgab, nicht zufrieden. Er, der selbst im Widerstand gegen die deutschen Besatzer in den Niederlanden schwer verletzt worden war, wollte wissen, auf welche Weise sein Bruder Theo im Lager Farge ums Leben gekommen ist. Vergeblich erkundigte er sich beim Roten Kreuz nach der Möglichkeit, den damaligen Lagerkommandanten Karl Walhorn oder die Lager-Kapos vor Gericht zu bringen.
Im Jahre 1961 fragte er schließlich beim damaligen Justizminister der Bundesrepublik, Fritz Schäffer, an, ob Walhorn für zwei Morde im Arbeitserziehungslager überhaupt bestraft worden sei? Denn Walhorn stand im Verdacht, die Insassen Tjark Kremers sowie Rootvoets eigenen Bruder Theo ermordet zu haben. Theo Rootvoets kam im Jahre 1944 im Alter von 26 Jahren nach Farge und starb dort wenige Wochen später an körperlichen Misshandlungen und Erschöpfung. Zahlreiche Inhaftierte im Lager Farge galten als vermisst, oder ihr oftmals qualvoller Tod wurde mit Worten wie „an Kreislaufschwäche gestorben“ beschönigt.
Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zu zahlreichen Verhören von Verantwortlichen, die immer wieder bestritten, willentlich für den NS-Staat gearbeitet zu haben und denen oft nicht das Gegenteil bewiesen werden konnte, weil viele Akten von den Nazis verbrannt worden waren. Lagerkommandant Walhorn wurde zwar 1948 von einem britischen Militärgericht zu vier Jahren Haft verurteilt, aber nicht wegen Mord an Theo Rootvoets.
Mit todernsten Mienen und lauten, durchdringenden Stimmen geben die drei Schauspieler die Befragung des Beschuldigten Walhorn wieder – der sich angeblich an vieles nicht mehr erinnern konnte und den Mord bestritt. Er habe nur einmal mit seiner Schrotflinte auf Kartoffeldiebe geschossen, diese aber nur verletzt. Nachdem Walhorn seine Haft abgesessen hatte, arbeitete er als Vertreter im Elektronikbereich.
Zwischen all den Versuchen von NS-Tätern, ihre Hände in Unschuld zu waschen, kommt auch ein Doktor der Medizin zu Wort, der im Lager Farge tätig war. Er berichtet von den unmenschlichen Zuständen dort, die gegen Ende des Krieges immer schlimmer wurden: überfüllte Baracken, unzureichendes Essen und schwere Bauarbeiten. Infolgedessen starben viele Insassen durch Entkräftung.
Ein Jahr nach seiner Anfrage beim Bundesjustizministerium erhält Adriaan Rootvoets ein Schreiben des Ersten Bremer Staatsanwalts Siegfried Höffler: Die Ermittlungen gegen Walhorn habe er eingestellt, der Lagerkommandant sei nicht verantwortlich. Basierend auf Originaldokumenten, die in Archiven gefunden wurden, sowie dem Privatarchiv von Thea Roodvoets, der Nichte von Theo Roodvoets, wird ein dunkles Kapitel der Bremer Nachkriegsjustiz zu Gehör gebracht. Obwohl die Szenen sich nur aus Aktenstücken zusammensetzen, fehlt es ihnen nicht an Dramatik.