Nach seiner eintägigen Hospitanz in einer Station der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Oslebshausen hat Thomas Jünger noch größeren Respekt für die Arbeit der Angestellten. Gleichzeitig aber ist sein Verständnis für die psychische Belastung der Inhaftierten gestiegen. "Diese Enge und geschlossenen Türen", sagt er – und seufzt tief in Erinnerung an dicke Mauern, Gitter, Zellen und Sicherheitskontrollen und wenig selbstbestimmten Freiraum.
Das selbstständige Leben in Freiheit ist der krasse Kontrast – und für Menschen mit straffälligem Hintergrund und psychischen Auffälligkeiten eine riesige Herausforderung. Damit sie nach ihrer Haftentlassung ihren Alltag allein geregelt bekommen, bietet Jünger jenen, die ihr Leben positiv verändern wollen, eine besonders intensive Begleitung an: Er ist Integrationscoach für Beratung & Vernetzung für das gleichnamige Teilprojekt im Chance-Netzwerk.
"Wir versuchen, die Leute aus dem straffälligen Milieu wegzubekommen", formuliert er das Ziel der niedrigschwelligen Anschubhilfe. Denn das Modellprojekt soll Lösungswege zur Vermeidung von Haftstrafen aufzeigen. Und sei zudem auf Gesundheitsprävention ausgerichtet, weil viele Menschen ihre psychische Erkrankung nicht akzeptierten. Zurzeit betreut Jünger 51 überwiegend männliche Klienten, wobei die Pandemie die Vermittlung und Kontaktaufnahme deutlich erschwert hat. Die Altersspanne reicht von 21 bis 64 Jahre.
Prinzip auf Freiwilligenbasis
Der sogenannte "Entlassungsvorbereitungspool" der JVA wählt Inhaftierte aus, die in absehbarer Zeit freigelassen werden, und stellt ihnen die kostenlose Unterstützungsmöglichkeit vor. "Wenn sie wollen, können sie bei mir andocken", erklärt Jünger, der sein Büro in der Sonnenstraße 3 hat. Darüber hinaus arbeiten die Freien Träger der Straffälligenhilfe mit dem Integrationscoach zusammen, beispielsweise der Verein Hoppenbank, ebenso die Sozialen Dienste der Justiz.
Als ersten Schritt zur sozialen und beruflichen Wiedereingliederung bietet der Integrationscoach den Adressaten des Modellprojekts ein vertrauliches Erstgespräch an, um die aktuelle Lebenssituation und Sachverhalte zu erfahren. Dabei spricht der 52-Jährige die zentralen Säulen für ein straffreies Leben an: ein gesichertes Einkommen, die Wohnsituation, den Umgang mit Altschulden oder wie man generell Schulden vermeiden könne.
"Ich gucke, wo Hilfe benötigt wird, damit die Klienten im Rechts- und Sozialsystem klarkommen", beschreibt der Sozialarbeiter seine Aufgabe. Viele von ihnen stünden ohne familiäre Unterstützung da und seien durch ihre Biografie abgestempelt. "In der Regel erzählt mir jemand von einem Problem. Und je länger er spricht, desto mehr Probleme kommen dazu", berichtet der 52-Jährige. Bewusst frage er nicht nach der "kriminellen Karriere", weil er jedem Klienten offen und unvoreingenommen begegnen möchte.
Oft sei die Beschaffungskriminalität durch eine ausgeprägte Alkohol- oder Drogensucht ein Haftgrund. "Falls eine Abhängigkeit vorliegt, versuche ich immer, den Klienten von einer Therapie zu überzeugen." Aber das sei relativ schwierig, denn die psychischen Auffälligkeiten von Menschen mit straffälligem Hintergrund nähmen zu.
Zu den psychosozialen Problemlagen und Belastungen zählt er ebenfalls Langzeitarbeitsarbeits- und Wohnungslosigkeit. Die Wohnungsnot sei "eklatant", sodass seine Klientel kaum eine Chance auf eigene vier Wände habe. Als Lichtblick bezeichnet er das Projekt "Housing first", das Obdachlose von der Straße holen will. "Wir können durch unser Chance-Netzwerk den individuellen Bedarf bedienen," sagt Jünger. Er arbeite unter anderem auch eng mit dem Jobcenter, Sozialamt, Gericht, der Zentralen Fachstelle Wohnen, Ärzten oder Krankenkassen zusammen und vermittele seine Klienten.
Auch das Sprachproblem, sagt Jünger, verschärfe sich. "Die meisten Klienten können kein Deutsch", berichtet er. Weil Menschen mit Migrationshintergrund die deutsche Sprache nicht beherrschen oder bestimmte Regeln oder Verfahrensabläufe nicht kennen, würden sie zum Beispiel nicht auf eine Mahnung reagieren. "Oft sind sie dann überrascht, wenn sie per Haftbefehl in die JVA eingewiesen werden." Die größte Schwierigkeit sei, dass seine Klienten entweder kein Telefon hätten, auf der Straße oder in Notunterkünften lebten oder nicht in der Lage seien, sich mitzuteilen.
Etwa 70 bis 80 Prozent der bei ihm vorstellig gewordenen Menschen mit straffälligem Hintergrund würden nach dem Erstgespräch in das "Chance"-Projekt einsteigen, so Jünger. Einige hätten ein herausforderndes Verhalten und würden verbal übergriffig, aber die meisten seien dankbar und froh, weil sie einfach nur Hilfe bräuchten", so der ausgebildete Deeskalationstrainer. "Manche brauchen nur mehrere Anläufe."
Eine belegbare Erfolgsbilanz kann Thomas Jünger nach 20 Monaten Modellphase zwar nicht vorlegen, aber auf viele kleine Errungenschaften verweisen, die den Bedarf und seinen Einsatz rechtfertigen – sei es eine geglückte Vermittlung in eine eigene Wohnung oder in stabilere Verhältnisse. "Die meisten meiner Klienten sind nicht wieder inhaftiert worden", resümiert er. "Ob jemand wieder straffällig geworden ist, kann ich nicht beurteilen."