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Leben im Brennpunkt Wie Probleme am Bremer Hauptbahnhof die Anwohner belasten

Seit mehr als 25 Jahre wohnt Silke Schumacher-Lange in unmittelbarer Nähe zum Bremer Hauptbahnhof. Der Drogenkonsum in ihrer Nachbarschaft hat sich so zugespitzt, dass sie Maßnahmen zum Schutz ergriffen hat.
10.07.2023, 05:00 Uhr
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Wie Probleme am Bremer Hauptbahnhof die Anwohner belasten
Von Kristin Hermann

Wenn Silke Schumacher-Lange aus dem Fenster ihres Büros blickt, fühlt sie sich oft zerrissen. "Ich schwanke zwischen riesigem Mitleid und Wut", sagt sie. Kriminalität, Drogenkonsum, Prostitution, Elend, Dreck: All jene Probleme, über die seit Monaten rund um den Bremer Hauptbahnhof diskutiert wird, spielen sich täglich vor ihrer Haustür ab. Schumacher-Lange wohnt in der Hohenlohestraße, die in unmittelbarer Nähe zum Nelson-Mandela-Park auf der Bahnhofsrückseite verläuft. 

Meist gehe es bereits am frühen Morgen los, wenn sie eine Runde mit ihrem Hund drehen will. Vor ihrer Eingangstür befinden sich zwei kleine Balkone. "Hier pflanze ich schon nichts mehr oder stelle etwas zur Verschönerung auf, das lohnt nicht", sagt sie. Der ein oder andere aus der Drogenszene habe dort bereits seinen Rausch ausgeschlafen. "Das macht natürlich etwas mit dem eigenen Sicherheitsgefühl", erzählt die Anwohnerin. Auch im Nelson-Mandela-Park treffe sie häufig auf stark berauschte Menschen. Regelmäßig wähle sie deshalb den Notruf.

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Aus Angst: Anwohnerin zäunt Balkon ein

Wie sehr die Situation Schumacher-Lange belastet, wird auch bei einem Blick auf ihren Balkon deutlich, der zur Rückseite ihres Wohnhauses hinausgeht und auf dem die 58-Jährige viele Pflanzen gezüchtet hat. Über dem regulären Geländer hat sie bereits vor Monaten einen Metallzaun anbringen lassen. Wenn sie nun danebensteht, sieht es ein bisschen so aus, als hätte Schumacher-Lange sich in ihrem eigenen Zuhause eine Art Gefängnis geschaffen. Vor etwa anderthalb Jahren hätten Einbrecher versucht, über ihren Balkon einzusteigen. Als ihnen das nicht gelang, seien sie im Nachbarhaus eingebrochen. Selbst die Zwischenräume des Zaunes hat sie an der Unterseite verkleiden lassen, sodass niemand rüber klettern kann.  

Seit 1997 wohnt die Dozentin für politische Bildung in ihrer Wohnung, ihre Kinder seien hier groß geworden. Dass Drogenkranke nach Nachschub suchen oder sich im Bahnhofsumfeld aufhalten, habe es schon damals gegeben. "Die Art und Weise, mit was für einer Selbstverständlichkeit nun offen konsumiert wird und auch die Begleitumstände, haben mit Ausbruch der Corona-Pandemie und dem Anwachsen der Szene eine andere Dimension angenommen", sagt sie.

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Seitdem sich die Lage zugespitzt hat, habe sie immer mal wieder mit dem Gedanken gespielt, ihre geräumige Altbauwohnung aufzugeben. "Es gab Wochen, in denen ich mich nach Alternativen umgeschaut habe", sagt sie. "Aber auf der anderen Seite will man dieser Entwicklung nicht einfach das Feld komplett überlassen."

Auch in anderen Nachbarschaften Probleme

Was Schumacher-Lange beschreibt, ist auch aus anderen Nachbarschaften zu hören, die an den Hauptbahnhof grenzen. Seitdem der Bereich zu einem Brennpunkt für Kriminalität geworden ist, gibt es solche Auswüchse ebenso in den Straßen drumherum. Oft ist das eine Wechselwirkung: Je stärker die Polizei am Hauptbahnhof kontrolliert und einschreitet, desto häufiger weichen die Täter in die Nachbarschaft aus. Wie zuletzt berichtet, sind deshalb beispielsweise auch in der Rembertistraße in den vergangenen Monaten Eisentore vor mehreren Einfahrten angebracht worden.

An Schumacher-Langes Büro und ihren Balkon grenzt die Kreuzgemeinde, zu deren Leitungskreis sie gehört. Nahezu täglich ließen sich auf den Treppen vor dem Eingangsbereich Drogenkranke nieder. Auch hier hat man in den vergangenen Monaten Maßnahmen getroffen und den Innenhof mit einem Eisentor versperrt. "Dort wurde sich regelmäßig prostituiert und konsumiert", sagt Hausmeister Stefan Schmidt. Mit dem Tor sei es etwas besser geworden, doch auch jetzt noch müsse er morgens benutzte Kondome oder Spritzen rund um das Gebäude einsammeln. "Heute Morgen erst habe ich wieder ein Pärchen weggeschickt, das augenscheinlich auf Drogen war. Die Frau wollte sich gerade eine Crackpfeife anzünden", sagt Schmidt. Manche reagierten mit Verständnis auf solche Aufforderungen, andere aggressiv.

Überfall auf Gemeindemitglied

Vor wenigen Wochen habe es am helllichten Tag einen Überfall auf eines der Gemeindemitglieder gegeben, als dieses während des Gottesdienstes kurz vor die Tür gehen wollte. "Der Täter hatte sich wohl zuvor in den Büschen versteckt und auf seine Gelegenheit gewartet", sagt Schumacher-Lange. In der Kirchengemeinde hätte sich inzwischen eine "Taskforce Hauptbahnhof" gegründet, um zu überlegen, welche Schutzmaßnahmen man für die Mitglieder ergreifen kann. In einem ersten Schritt seien die Büsche niedrig geschnitten worden. "Außerdem steht immer einer von uns während des Gottesdienstes vor der Tür und passt mit auf." Auch Videoüberwachung werde im Leitungskreis diskutiert.

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Eine Lösung für die Umstände haben weder die Anwohnerin noch der Hausmeister der Kirchengemeinde. Polizeipräsenz sei hilfreich, aber oftmals nur kurzfristig und löse auf Dauer nicht das gesellschaftliche Problem. Eins steht für Schumacher-Lange fest. Einfach hinnehmen, will sie diesen Zustand vor ihrer Haustür nicht: "Ich will mich nicht an dem Anblick gewöhnen. Für viele Menschen laufen diese Lebensumstände auf den sicheren Tod hinaus. Ich finde es menschenunwürdig, wenn ich das einfach akzeptiere, auch für die Betroffenen selbst."

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