Die Schlange ist nicht besonders lang, aber immerhin, es ist eine. Im Riesenrad der Hansteins, das sie Anfang Juli auf dem Domshof aufbauen durften, haben 144 Menschen Platz, wenn alle 24 Sechsergondeln dicht an dicht besetzt sind. Gerade, es ist fast Mittag, warten acht Leute auf die nächste Runde, manche mit Gesichtsmaske, andere ohne. Als letzte in der Schlange stehen zwei elfjährige Freundinnen, Sascha Hanstein hat sie eben an der Kasse zum Kindertarif durchgewunken.
Andere, das erzählt Otfried Hanstein, Oberhaupt der Schaustellerfamilie mit langer Bremer Tradition, zahlen neuerdings freiwillig einen oder zwei Euro mehr, als sie müssten. „Dass wir an Fahrgeschäften Trinkgeld bekommen, habe ich vorher noch nie erlebt“, sagt er. „Aber es zeigt, dass die Menschen unsere Sorgen verstehen.“ Die Sorgen der Schausteller sind groß, gehören sie doch wie Gastronomen, Club- und Diskobetreiber oder das Rotlichtgewerbe zu den Unternehmern und Betrieben, denen die Pandemie in besonderem Maße zusetzt.
Normalerweise bespielen die Hansteins mit ihren Karussells und den drei Bierhütten pro Jahr zwischen 70 und 80 Jahrmärkte und andere Großveranstaltungen wie die Musikfestivals Hurricane oder Deichbrand. In diesem Jahr: Bisher nada, nichts, abgesehen von der Sondererlaubnis in Bremen und einer zweiten am Neuen Hafen in Bremerhaven, wo im Moment das zweite Riesenrad seine Runden dreht. Die anderen Fahrgeschäfte, darunter Wellenflug und Commander, sind eingemottet. Und damit geht es den Hansteins noch gut im Vergleich zu vielen anderen Kollegen unter den rund 3000 deutschen Schaustellern, die im Moment komplett von Ersparnissen leben müssen.
„Aber unser Betrieb und damit auch die Kosten sind nun mal darauf ausgerichtet, dass wir in der Saison zwischen März und Mitte Dezember gebucht und unterwegs sind“, sagt Hanstein. In einem normalen Jahr bezahlt er dann rund 20 Mitarbeiter, im Moment braucht er nur sechs. „Die letzten Einnahmen hatten wir im Dezember“, sagt der Seniorchef. Das Geld, das die beiden Riesenräder einfahren, reicht, um das Personal zu bezahlen. Für mehr aber nicht. Hanstein: „Wir sind jetzt vielleicht bei 15 Prozent von dem, was normalerweise reinkommt. Wenn sich der Staat nichts einfallen lässt, werden es einige Kollegen beruflich nicht überleben.“

Otfried Hanstein (r.) und sein Sohn Sascha. Ihr Riesenrad steht seit Mitte Juli auf dem Domshof.
Aufnahme weiterer Kredite
Da sind Kredite, die bedient werden müssen, bei den Hansteins zum Beispiel für das erst vor zwei Jahren neu angeschaffte zweite Riesenrad, mehr als 1,5 Millionen Euro teuer. Viele der Kollegen verhandelten nun mit den Banken die Aufnahme weiterer Kredite, um die bereits laufenden bedienen zu können, sagt Hanstein. „Aber die Banken sehen ja auch, dass es derzeit keine Großveranstaltungen gibt und kein Geld hereinkommt. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Irgendwann sind unsere Rücklagen aufgebraucht.“ Fahrgeschäfte oder Festzelte zu verkaufen, ist für die meisten keine Option. „Wer kauft sich denn jetzt ein Karussell?“, fragt Hanstein. Auch ins Ausland auszuweichen ist schwierig – erstens schränkt Corona auch dort Veranstaltungen ein; und selbst wenn nicht, gibt es auch in Italien, Österreich oder den Niederlanden genügend einheimische Kollegen.
Und es sind ja auch nicht nur die Schausteller betroffen. Zulieferer für die Imbiss-Buden zum Beispiel. Hanstein: „Da kommt jetzt schon einiges an Bratwürsten zusammen, das nicht gebraucht wird.“ Oder die auf Karussell-Technik spezialisierten Betriebe. Wenn Fahrgeschäfte potenziellen Gästen nicht entgegenblinken und -leuchten dürfen, gehen auch die Zehntausenden von LED-Lampen nicht kaputt, die im Normalbetrieb regelmäßig ausgetauscht werden müssen. „Es ist eine lange Kette“, sagt der 68-Jährige, „alle unsere Zulieferer erzählen, es gehe ihnen nicht gut gerade.“ Sein ganzes Schaustellerleben habe er nie einen anderen Beruf haben wollen. „Jetzt denke ich manchmal schon: Wieso habe ich nichts anderes gemacht?“
Aber solche Gedanken hegt er meistens nicht lange, denn eigentlich ist Hanstein eher Optimist. Und als solcher glaubt er daran, dass es sowohl einen Freimarkt als auch Weihnachtsmärkte geben wird, in welcher Form auch immer. Neben dem Hamburger Winterdom, der sich an den Freimarkt anschließt, sind es die letzten Chancen, in diesem Jahr noch Geld zu verdienen. „Wir sind draußen, wir haben Hygienekonzepte“, sagt Hanstein. Am Eingang zum Riesenstand stehen Spender mit Desinfektionsmittel, das Personal trägt Schutzmasken, es gibt Hinweisschilder auf Augenhöhe und Markierungen auf dem Boden. Ob jemand zusammen mit Fremden in einer Gondel Platz nehmen möchte, darf jeder Fahrgast selbst entscheiden.
Die Schausteller, sagt Hanstein, seien vorbereitet. „Innerhalb von einer Woche könnten wir einen Freimarkt bestücken.“