Die zwei Jahre in Deutschland haben Viktoria Botvinieva und ihrem Mann Konstantin die Grenzen ihrer Belastbarkeit aufgezeigt: Die Sprachbarriere, die Wohn- und vor allem die berufliche Situation hat das Paar als herausfordernd und Kraftakt erlebt. Anfang März 2022 war es mit seinen drei Kindern vor den russischen Angriffen aus dem ukrainischen Charkiw nach Deutschland geflohen. Die Sehnsucht nach Normalität, nach der Familie und vertrauten Umgebung – ihr Heimweh – sind in all der Zeit aber geblieben.
Deswegen haben sich die Botvinievas trotz des anhaltenden Kriegs nach reiflicher Überlegung zur Rückkehr nach Charkiw entschieden. Über Monate hatten sie ihre Abreise aus Bremen vorbereitet. „Wir konnten nachts nicht schlafen vor lauter Freude, bald nach Hause zu kommen“, sagt Viktoria Botvinieva rückblickend.

Am Abreisetag nimmt sich Konstantin noch die Zeit für eine Fußmassage für seine schwangere Frau.
Am letzten Tag in ihrer Neustädter Mietwohnung hatte die schwangere Frau noch Essen für die Fahrt gekocht. Auch einen Termin mit der SWB hatte das Paar eingeplant, um seinen Stromanschluss abzumelden. „Wir sind den Menschen in Deutschland sehr, sehr dankbar für alles, was wir hier bekommen haben“, sagt Viktoria Botvinieva. „Doch hier haben wir das Gefühl der Perspektivlosigkeit.“ Vor allem die Sorge, den Alltag in der Hansestadt mit drei Kindern von 13, elf und fünf Jahren und bald einem Neugeborenen nicht allein bewältigen zu können, weil sie dafür die Sprache nicht gut genug beherrsche, habe die ausgebildete Buchhalterin aufgewühlt.
Der größte Druck aber habe auf den Schultern ihres Mannes gelastet. Nach Konstantin Botvinievas Selbstverständnis, seine Familie selber versorgen und keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, habe die Arbeit stets an erster Stelle gestanden, sagt seine Frau.
In ihrem ersten Jahr im bayrischen Ettal fand Konstantin Botvinieva nach eigenen Angaben nach einem Monat eine Arbeitsstelle in der Spülküche eines Restaurants. Als das Unternehmen ihm keinen Lohn mehr zahlen konnte, sei er im vergangenen Jahr mit seiner Familie zu Freunden nach Bremen gezogen. Er habe sofort eine Arbeit am Fließband bei Mercedes gefunden und vom Bremer Jobcenter Deutschkurse angeboten bekommen, erinnert sich seine Ehefrau. Doch der Zeitaufwand für den Spracherwerb hätte für die Familie bedeutet, dass ihr Mann morgens um 5.30 Uhr die Wohnung verlassen muss und erst um 22 Uhr zurückkommen konnte. „Und das über mehrere Jahre.“ Schließlich hätte ihr Mann nur mit Deutsch auf B1- und B2-Niveau darauf hoffen können, in absehbarer Zeit eine Arbeitsstelle in einem seiner beiden Berufe zu finden: Konstantin Botvinieva ist studierter Agrarwissenschaftler und Sportlehrer.
In der Ukraine ist er nach der Rückkehr nun als leitender Agronom auf einem Saatgutzuchtbetrieb zwischen Charkiw und Kyjiw tätig. „Ich kann wieder das tun, was ich liebe: In meiner Heimat auf dem Land arbeiten“, lässt er über seine Frau ausrichten. Fast noch wichtiger ist es nach ihrer Einschätzung jedoch für ihn, nicht länger den Beleidigungen der russischen Kollegen ausgesetzt zu sein, die in Bremen leben. „Das hat ihn sehr belastet und war auch ein wichtiger Grund für unsere Rückkehr“, sagt die 39-Jährige.
Als die Familie Charkiw nach zweitägiger Autofahrt Anfang des Monats erreicht hatte, waren „alle von Glücksgefühlen überwältigt“, erzählt die schwangere Frau, die ihr viertes Kind im Beisein ihrer vertrauten Ärztin in der Charkiwer Klinik zur Welt bringen will. „Es war unglaublich, meine Eltern und unser selbst gebautes Haus wiederzusehen.“ Dort hätten ihre Eltern eingehütet und ihren Hund versorgt.
Loch im Terrassendach
Yelizaveta und Ivan Botvinieva haben laut ihrer Mutter in der Schule in Bremen gute Noten bekommen und nachmittags ihre ukrainische Schulbildung über das Internet fortgesetzt. Durch Corona seien sie mit Online-Unterricht vertraut gewesen. Weil die beiden Kinder nun nicht mehr vor- und nachmittags lernen müssten, hätten sie wieder mehr Zeit für ihre Hobbys Balltanz, Kampfsport und Fußball sowie für Freunde und Familie.
Die Bedrohung durch den Angriffskrieg hätten die Botvinievas vor zwei Jahren als größer empfunden. 150 Meter von ihrem Haus entfernt war 2022 nach eigenen Angaben eine Rakete in eine Schule eingeschlagen. Herumfliegende Splitter hätten ein Loch in ihr Terrassendach gerissen, sagt die 39-Jährige. Ihre Familie hofft nach wie vor, dass der Krieg durch die Unterstützung der USA und von Europa mit Waffen und militärischem Gerät bald ein Ende findet. Die ukrainischen Soldaten hätten die Gefahr dadurch deutlich eindämmen können.
Vor einigen Tagen musste Viktoria Botvinieva während eines Gynäkologenbesuchs im Klinikkeller Schutz vor Raketen suchen. Dennoch hat sie nach eigenen Angaben keine Angst vor der Zukunft. „Als der Angriff zu Ende war, ging alles seinen normalen Gang“, sagt sie.

Viktoria verstaut die letzten Sachen im Kofferraum, während die drei Kinder schon im Auto sitzen. In wenigen Momenten startet die Fahrt von der Neustadt zurück in die Ukraine.