Das traditionelle Geber-Nehmer-Denken in der Entwicklungshilfe hat Anneli-Sofia Räcker schon immer gestört – und abgelehnt. "Wir schätzen die Kompetenzen und kulturellen sowie sozialen Ressourcen der Menschen in den ärmsten Ländern der Erde zu wenig", sagt die Bremerin aus tiefer Überzeugung. Sie hat vor 16 Jahren die Organisation Ketaaketi gegründet.
Darüber setzt die hauptberufliche Psychotherapeutin mit zwölf durch Ketaaketi initiierten Nichtregierungsorganisationen (NGO) in acht Ländern, die sie alle persönlich bereist hat, ein völlig neu gedachtes partnerschaftliches Entwicklungshilfemodell um: Statt den armen Menschen Geld zu schicken und vorzugeben, wofür es verwendet werden soll, basiert das Ketaaketi-Modell nach ihrer Aussage "auf Würde, Eigenständigkeit, der Herausstellung der eigenen Kompetenzen und einem wertschätzenden Dialog".
Ketaaketi heißt Kinder auf nepalesisch. Für Anneli-Sofia Räcker steht der Begriff für Wachstum, Entwicklung und Zukunft. Und eine lebenswerte Zukunft möchte die mehr globale Gerechtigkeit anstrebende Vereinsvorsitzende den Familien in den ärmsten Ländern der Erde ermöglichen, indem sie über das präventive Konzept vor allem Frauen durch zinsfreie Mikrofinanzierung fördert.
Schon mit 100 Euro könnten sich die Frauen in armen Ländern ein kleines Geschäft aufbauen, das die Versorgung der Familie sichert und ihre Kinder zur Schule schicken, erläutert die Verfechterin eines Paradigmenwechsels in der Entwicklungspolitik, die für ihren neuen Denkansatz bereits 2008 den Nachhaltigkeitspreis der Unesco und 2019 von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Verdienstkreuz am Bande ausgezeichnet worden ist. Im Idealfall trage sich das Geschäft selbst, sagt Anneli-Sofia Räcker, die in Deutschland von acht Länderkoordinatoren unterstützt wird. Da die Frauen eigenverantwortlich handeln und das Geld nicht an Ketaaketi zurückzahlen müssten, sondern an die nächste Familie oder Frauengruppe weitergeben, setzt der Ketaaketi-Gründerin zufolge ein Dominoeffekt ein.
Die Vereinsvorsitzende bereist selbst regelmäßig die ärmsten und kleinsten Länder der Erde. Dabei berücksichtigt sie unterschiedliche Kulturen, weil diese Faktoren für die Evaluation bedeutsam sind. Jedoch sei ihre persönliche Belastungsgrenze langsam erreicht, gibt die umtriebige, gut vernetzte Bremerin älteren Semesters mit Interesse an Kultur zu. Es müsse über eine hauptamtliche Führung des rund 250 Mitglieder starken Vereins nachgedacht werden, der das Geld für die Mikrofinanzierung aus deren Beiträgen, einer Reihe größerer Sponsoren und Veranstaltungen generiert, erklärt sie.
Ihr Interesse an Dritte-Welt-Ländern und konsequentes Eintreten für partnerschaftliche Zusammenarbeit sieht Anneli-Sofia Räcker in ihrer Biografie begründet. Schon ihr Vater und dessen Eltern stammten zwar aus einer Bremer Kolonialfamilie, hätten jedoch "absolut antikolonial" gehandelt, so die praktizierende Psychotherapeutin und Coachin. "Ich bin mit Nelson Mandela und Mahatma Gandhi, mein Vater mit Indigenen aufgewachsen", erinnert sie sich an relativ frühe umfassendere Einblicke in die Lebenswelten notleidender Menschen auf der Südhalbkugel zurück.
Ein Schlüsselerlebnis war für die in Huchting lebende Aktivistin eine Studienreise nach Nepal 2006. Schon nach zwei Tagen hatte sich sie von der Gruppe abgesetzt, "weil ich Menschen kennenlernen wollte, die selber vor Ort aktiv geworden sind". Dort traf sie auf den in der Reisebranche tätigen Diplom-Ökonomen Rajesh Regmi, der als Angehöriger der höchsten Kaste Nepals in einem Slum von Kathmandu eine Schule für Kinder der niedrigsten Kaste aufgebaut hat.
Nach zwei Tagen sei ihr klar geworden, dass auf Grundlage der hohen Kompetenz und Eigeninitiative Multiplikatoren wie Rajesh Regmi zur Gründung lokaler NGOs gefunden werden müssten, die mit einer deutschen NGO zusammenarbeiten, berichtet Anneli-Sofia Räcker. Über Ketaaketi organisierte sie weitere Gründungen von NGOs. Da diese ausschließlich von Mitarbeitenden aus dem jeweiligen Land eigenständig und -verantwortlich geführt werden sollten, suchte die Bremerin selbst nach geeigneten Engagierten. "Wir sind keine Sozialreformatoren, sondern respektieren und achten auch die jeweilige Kultur vor Ort", betont Anneli-Sofia Räcker.
Bereits in acht Ländern hat sie das systemische Partnerschaftsmodell erfolgreich eingeführt. Über zwölf Nichtregierungsorganisationen (NGO) hat "Ketaaketi" ihr zufolge rund 6.000 Mikrofinanzierungen für Frauen angeschoben und dadurch in deren Familien etwa 50.000 bis 60.000 Menschen erreicht.
Bei ihrem jüngsten Besuch im Mai in Burundi hat Annelie-Sofia Räcker beispielsweise Frauen kennengelernt, die dank der Mikrofinanzierung nun selber Reis anbauen und ihre Familien versorgen können. In Liberia würden Frauen Schuluniformen nähen, spricht sie ein anderes Projekt an, bei dem die Frauen eigene Ressourcen einsetzen müssen, um eine kleine finanzielle "Starthilfe" aus Deutschland zu bekommen: Ketaaketi finanziert ihnen benötigte Nähmaschinen nur mit einem Teilbetrag, den Rest müssen sie beispielsweise durch günstige Stoffkäufe selbst aufbringen. "Dadurch setzen wir auch ein Balancemodell gegenseitiger Verantwortung beider Seiten um", erklärt Anneli-Sofia Räcker.