Oben im Haus werden "Zähne gerade gemacht", beschreibt Peter Zernial seine Arbeit. Er ist Kieferorthopäde und steht mit 79 Jahren immer noch am Behandlungsstuhl, zwei Tage in der Woche. "Weil es Spaß macht", sagt er. Kann bei komplizierten Fällen aber auch anstrengend sein. Stress pur. Dann lockt der Keller unter der Praxis. Ein großer Raum ohne Tageslicht, in dem eine völlig andere Welt zu Hause ist.

Nichts mehr von klinischer Sauberkeit, keine perfekte Ordnung. Im Gegenteil. An der Decke baumelt ein defekter Kühler, überall Ersatzteile, Schrauben, Zubehör jeder Art. Öle und Fette, alte Lappen, Reifen, Souvenirs. Kurzum: ein Schrauberparadies.
Rallye von Peking nach Paris im Oldtimer
Oben filigranes Werkeln, wenn zum Beispiel Zahnspangen angepasst werden oder eine Wurzelbehandlung ansteht. Unten der beherzte Stoß aufs Blech, wenn's nötig ist. "Den Hammer nehmen und draufhauen. Das verschafft mir Luft", sagt Zernial. Er frickelt an Autos herum, baut Oldtimer zusammen und fährt Rallyes damit. Im kommenden Jahr, sofern Corona nicht mehr im Wege steht und eine taugliche Route gefunden wird, soll es von Peking nach Paris gehen. Das hat er schon einmal gemacht. Vor zehn Jahren, und es war ein Abenteuer. Was auch sonst?
Da steht er, ein MG TC, Baujahr 1948. Mit dem Wagen sind Zernial und sein Co-Pilot an einem verregneten Dienstagmorgen im Mai 2013 losgefahren. Von Peking aus ins Ungewisse, mit rund 100 anderen Teilnehmern der Rallye.
Gleich zu Anfang die ultimative Herausforderung: Eine tagelange Etappe durch die Wüste Gobi, wo die Straßen sich in Sand und Staub verlieren und eigentlich keinen Weg mehr bieten. Alles am MG rappelt und klappert. Hält der Wagen? Geht was zu Bruch? Zernial fährt so vorsichtig, wie er kann, nicht schneller als 25 Kilometer in der Stunde. Hochgerechnet bedeutet das, erst in der Nacht am Ziel anzukommen, wenn es bei Dunkelheit überhaupt gefunden wird. Doch plötzlich taucht in der steinigen Einöde wie eine Fata Morgana ein nagelneues Stück Asphalt auf, warum auch immer. 80 Kilometer Brausefahrt. Alles wieder gut. Die Zeit ist aufgeholt.

Eine Episode von vielen während der 33 langen Tage bis nach Paris. Am Ende haben sie es geschafft und sich im Wettbewerb sogar sehr achtbar geschlagen. Ein Pokal in der Werkstatt erinnert an die Rallye, er steht zusammen mit anderen Auszeichnungen auf einem Regal und staubt vor sich hin.
Zernial hat bereits einige Wettkämpfe hinter sich, angefangen 2012 in Oldenburg, also gleich um die Ecke, später auch mal in Australien und beim Flying-Scotsman-Rennen durch Schottland und den Norden von England. Der zerknautschte Kühler an der Kellerdecke ist ein Zeugnis vom Scotsman.

"Schwerer Unfall", erzählt Zernial. Er hatte sich beim Zusammenstoß mit einem anderen Oldtimer fünf Rippen gebrochen, sein Beifahrer erlitt ein Schädeltrauma. Einmal passiert, und nie wieder: "Es war mein einziger Unfall in dem Sport."
Den 48er MG, einer von dreien, die er mithilfe anderer Schrauber, zusammengebaut hat, fand Zernial vor 45 Jahren als Rudiment in einem Bremer Autoshop: "Der Rahmen und ein paar Bleche, mehr war das nicht." Damals sei es schwierig gewesen, die anderen Bauteile zu besorgen, "es gab ja noch kein Internet".

Die Bastelarbeit hat Jahre verschlungen. Und Geld gekostet, nicht wenig. "Der MG ist aber ein vergleichsweise günstiger Oldtimer", sagt der Sammler. Anders als ein Jaguar, Bentley, BMW oder Mercedes. Solche Autos könnten schon in der Anschaffung in Bereiche vorstoßen, für die ein "mittleres Portemonnaie" nicht mehr ausreiche.
Vorfreude auf die Rallye
Es stehen noch zwei weitere Oldtimer in der Garage: ein Ford V8 aus dem Jahr 1941, den Zernial einem Automuseum in Chicago abgekauft hat – ein Trumm von Wagen, sehr groß, und in einem satten Blau gehalten. Dahinter duckt sich ein Chevrolet, bald 90 Jahre alt, der aus Texas stammt. Das Gefährt in hellbraun wirkt leicht und elegant und ist ein Cabriolet. Damit will Zernial starten, falls es im kommenden Jahr auf die Reise von Peking nach Paris gehen sollte. "Der MG ist eine harte Kiste, dafür bin ich mittlerweile zu alt", sagt er. Sein "Chevi" verspricht ein bisschen mehr Komfort.

Doch ist das überhaupt realistisch? Wie damals durch halb Asien, vor allem aber durch Russland und die Ukraine? Wohl kaum, selbst wenn bis dahin wieder Frieden herrschen sollte. Start und Ankunft könnten gleich bleiben, die Routen aber sicher nicht. Sei’s drum, Zernial glaubt an die Rallye, wo auch immer sie längs führen wird: „Ich freu’ mich drauf.“ Er ist dann 80 Jahre alt, traut sich das aber trotzdem zu: „Mein Motor ist in Ordnung, habe ich gestern überprüfen lassen.“ Die Gesundheit. Tipptopp, offenbar.
Stets ein Beifahrer an Bord
Premiere hatte das Rennen im Jahr 1907. Damals veröffentlichte die Pariser Zeitung "Le Matin" den forschen, gendermäßig heute ganz und gar unmöglichen Aufruf: „Was heute noch bewiesen werden muss, ist, dass ein Mann, solange er im Besitz eines Autos ist, alles tun und sich überall hinbegeben kann. Gibt es jemanden, der diesen Sommer eine Fahrt per Automobil von Peking nach Paris unternehmen wird?“ Von 40 Anmeldungen blieben fünf übrig.
Es siegte der italienische Fürst Scipione Borghese, er hatte seinen ganzen Ehrgeiz in die Rallye gesteckt und sie mit allen Finessen vorbereitet – so weit das möglich war, denn es ging durch Gebiete, in denen häufig Straßen fehlten und die Geländekarten große Lücken aufwiesen. Der Treibstoff wurde in Benzinfässern mit Kamelen zu den festgelegten Stationen an der Strecke gebracht.
Gewonnen hatte also der Fürst. Doch war er allein? Mitnichten. Unterstützung kam von seinen beiden Begleitern, dem Mechaniker und Chauffeur Ettore Guizzardi und dem Reporter Luigi Barzini. Bei Zernial ist das nicht anders. Er hat stets einen Beifahrer dabei: "Ohne geht es nicht, unmöglich, und er muss perfekt sein, wenn man nicht in der Pampa festhängen möchte." Der Beifahrer habe im Duo eindeutig die schwierigere Aufgabe, er müsse die Anzeiger im Blick behalten, die Wegstrecke sowieso und auch noch auf die Hinweise der Rallye-Veranstalter achten. Sollte Zernial sich mit seinem "Chevi" tatsächlich auf den Weg machen, wird er von Kai Fleck von der Classic Car Company in Bremen begleitet.

Damals, bei seiner ersten Reise von Peking nach Paris, waren in der Seine-Metropole der Arc de Triomphe und die Chams Elysees das Ziel. Großer Bahnhof zum Empfang, viel Publikum, darunter auch die Familien vieler Teilnehmer, die eigens angereist waren. Bilder von der Ankunft gibt es in einem Buch, das Zernial herausgegeben hat. Auf dem Cover prangt ein Foto, das die Fahrt auf den Punkt bringt: Der schwarze MG mit Startnummer 10, gestochen scharf, während im Hintergrund Landschaft und Horizont verschwimmen. Eine geradezu ikonische Aufnahme, mit dem Fahrer, der hoch konzentriert hinterm Lenkrad sitzt, und seinem Co-Piloten, in diesem Fall Udo Fink. Eine staubige Piste, gottverlassen – und zwei tollkühne Männer in ihrer fahrenden Kiste.