Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Essay Von der emotionalen Bindung an Gebäude

Der geplante Abriss und anschließende Neubau der Strandlust in Bremen-Vegesack hat eine Debatte ausgelöst. Doch warum ist das Ringen um dieses doch mittlerweile recht schmucklose Gebäude derart emotional?
13.07.2024, 08:40 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von der emotionalen Bindung an Gebäude
Von Björn Josten

Kaffeesierende im Vordergrund, fein rausgeputzte auf der Weserpromenade flanierende Menschen im Mittelgrund und in der Ferne stählerne Ozeanriesen oder dampfende Frachter: Es sind diese historischen Postkarten-Motive, die die Nordbremer in den guten alten Strandlustzeiten schwelgen lassen.

Vegesack als Spalier für diejenigen, die es in die weite Welt zog. Selbst wer nicht dabei war, kann das damalige Lebensgefühl anhand solcher Motive aufsaugen. Auch was sich in der Gebäudehülle abgespielt hat, erfüllt so manchen Zeitgenossen mit nostalgischen Gefühlen. Kaum ein Nordbremer, der nicht selbst rauschende Ballnächte oder denkwürdige Abende in der Strandlust in Vegesack erlebt hätte.

Nur wieso kochen die Emotionen bei der mittlerweile ziemlich maroden und schmucklosen Strandlust in Teilen der Bevölkerung derart hoch? Die guten Tage des Traditionshotels sind längst vorbei. Spätestens Corona hat dem einstigen Vegesacker Aushängeschild den Rest gegeben. Sanierungsstau. Ausbleibende Gäste. Nun sind die Tage des Gebäudes endgültig gezählt. Der Investor Max Zeitz wird dort Neues errichten. Das Vorhaben an der Lesum-Mündung stilisieren manche zu einem Politikum hoch, für viele ist es jedoch wenigstens eine emotionale Sache. Zuweilen sogar eine sehr emotionale.

Dass Architektur Emotionen hervorrufen kann, gilt in der Wissenschaft als unstrittig. Gebäude, die kulturelle Traditionen verkörpern, können ein Gefühl von Stolz und Nostalgie erzeigen, aber auch Zugehörigkeit und Gemeinschaft hervorrufen.

Visitenkarte des Stadtteils

Es sind zum einen die schönen Erinnerungen – die weniger schönen sind bis zur Unkenntlichkeit verblasst – und es ist zum anderen das Gefühl, etwas Vorzeigbares zu haben. Vegesacks erste Adresse war auch im Rest Bremens angesehen. Für die Nordbremer war es wichtig, nicht nur mit den Werften und den Fabriken einen großen Teil des industriellen Herzschlags der Hansestadt pochen zu lassen, sondern auch für Glanz und Glamour zu stehen.

Wie emotional Menschen auf den drohenden Verlust von Gebäuden mitunter reagieren, zeigen weltberühmte Beispiele. Als 2019 die Pariser Kathedrale Notre Dame in Flammen aufging, war die Anteilnahme groß. "Eine Selbstverständlichkeit und damit Teile der eigenen Kultur und der eigenen heilen Lebenswelt brennen zu sehen, erschüttert mich", schrieb damals Susan Barth im Spiegel und verwies auf die europäische Referenz des Bauwerks sowie die gesellschaftliche und kulturelle Identität. Anne Sauerbrey zitierte im Tagesspiegel eine Leserin mit den Worten: "Das Verlangen nach Beständigkeit ist tief im Charakter der Menschen verwurzelt, denn Beständigkeit bedeutet Ruhe und Frieden – das, was sich die meisten Menschen erhoffen." Vom Notre-Dame-Moment schrieb kürzlich Anne Diekhoff in der Taz mit Blick auf den Einsturz der Kopenhagener Börse. "Wer da sagt, man solle sein Herz nicht an Dinge hängen, versteht nicht genug vom Menschsein", betont sie in ihrem Text.

Identitätsstiftende Bauwerke

Doch es braucht nicht unbedingt dramatische Umstände, um Emotionen zu wecken. So wird in Köln der Dom sogar im Karneval besungen. "Mer losse d’r Dom en Kölle" (Wir lassen den Dom in Köln) wurde 1973 geschrieben und auf einer Single der Bläck Fööss erstmals veröffentlicht. Das Lied kritisiert die damals geplante Sanierung eines Stadtviertels. Die Bevölkerung befürchtete einen Identifikationsverlust. Und der Inbegriff der Kölner Identifikation ist neben dem Rhein und dem 1. FC Köln eben auch der Dom.

Stichwort Fußball. Die Heimspielstätten der Klubs tragen enorm zur Identifikation der Anhänger bei. Oft werden sie als "unser Wohnzimmer" bezeichnet. Kaum eine alte Kampfbahn, die Fans nicht in Erinnerungen an vergangene Zeiten schwelgen lässt. Werden Namensrechte von Stadien an Werbepartner verkauft, ist der Aufschrei meist groß und die Ignoranz gegenüber dem neuen Namen maximal. Wer sagt schon Wohninvest-Weserstadion?

Als um die Jahrtausendwende neben dem Parkstadion in Gelsenkirchen die Arena Auf Schalke gebaut wurde, schweifte manch skeptischer Blick aus der altehrwürdigen Betonschüssel – in der Papst Johannes Paul II 1987 eine Messe abgehalten hat, in der Länderspiele gespielt und Konzerte gegeben wurden – in Richtung der kolossalen Baustelle. Je mehr die moderne Arena Form annahm, desto skeptischer wurde manch ein Fan: Dieser Klotz aus Glas, Stahl und Beton sollte die Heimat von Schalke 04 werden? Für viele undenkbar. Das Parkstadion war zwar unkomfortabel, zugig, marode und altmodisch, die meisten Zuschauer dem Wetter schutzlos ausgeliefert: Aber es war eben der Ort, in der manch rauschendes Fest gefeiert wurde und noch viel mehr Tränen geflossen sind. Als 2001 die Arena als modernstes Stadion Europas eröffnet wurde, war der Verein stolz auf diese Errungenschaft und auch die Fans haben mittlerweile ihren Frieden mit der überdachten, mancherorts als Halle verspotteten, Heimspielstätte gemacht. In Vergessenheit geraten ist das Parkstadion indes nicht. Ein Flutlichmast ist auf Initiative der Fans erhalten worden und dient noch immer als eine von der Autobahn sichtbare Landmarke.

Architektonisches Ausrufezeichen kommt nicht

Diskussionen um einen gigantischen Neubau gab es auch in der Hansestadt an der Elbe. Und zwar bei der 110 Meter hohen Elbphilharmonie als Aufbau auf dem früheren Kaispeicher A. In Hamburg waren es vor allem enorme Kostensteigerungen und Bauverzögerungen, die Skepsis gegenüber dem als neues Wahrzeichen geplanten Monuments erzeugte. Doch das ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Heute ist das 2017 eröffnete Konzerthaus längst zum Imagefaktor geworden und wird von der Bevölkerung liebevoll Elphi genannt. "Aber so war es immer: Wenn ein Bauwerk die Menschen begeistert, ist auch die peinlichste Baugeschichte im Nu vergessen", schrieb die Welt im Januar 2017. Die Elbphilharmonie sei ein Glücksfall – "für die Musik, für die Architektur, für Hamburg, für Deutschland".

Nun soll am Vegesacker Weserufer Neues entstehen. Zwei Entwürfe wurden nach einem Architekturwettbewerb zur Überarbeitung quasi in eine Endrunde geschickt: eine spektakuläre Welle und ein funktionales Ensemble. Die fünf Einzelgebäude sollen nun umgesetzt werden. Damit bleibt Vegesack zwar eine außergewöhnliche Landmarke verwehrt. Aber das kann in Bremen kaum überraschen. "Die Stadt, die sich nicht traut", schrieb Jörg Helge Wagner im März dieses Jahres in dieser Zeitung über den architektonischen Mut in Bremen. "Zaudern und zagen statt etwas zu wagen", sei die Devise. Bremen sei eine Stadt, wo schon "durchschnittliche Hochbauten stets mit 'passt hier nicht hin' abgelehnt werden'".

Investor Max Zeitz hat sich nun, beraten durch eine Jury, dazu entschieden, diesem Zaudern Tribut zu zollen und den zurückgenommenen Plan umsetzen zu wollen. Das dürfte ein kluger Zug gewesen sein. Denn ähnlich wie in den 1960er Jahren sind jetzt wieder Sitzplätze für kaffeesierende Bistrobesucher mit Blick auf die Weser geplant. In Veranstaltungsräumen und einem Biergarten kann gefeiert werden. Das sind clevere Brücken, über die hart gesottene Nostalgiker vielleicht nicht gehen möchten, aber ohne Gesichtsverlust gehen könnten. Das Identitätsstiftende der alten Strandlust könnte in der neuen Strandlust wieder aufleben. Wenn die Vegesacker, die Bremen-Norder und Besucher die geplante Gastronomie mit Leben füllen, könnte der Stadtteil bekommen, was er zuletzt nicht mehr hatte: eine vorzeigbare erste Adresse direkt an der Weser. Viele Menschen werden im direkten Umfeld wohnen und den Ort und den angrenzenden Stadtgarten zusätzliche beleben. Daher wird es verkraftbar sein, dass das aufsehenserregende architektonische Ausrufezeichen nicht kommen wird.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)