Wochenlang hat Imke Bormann eine Schulassistenz für Lucan (9) gesucht, über Kleinanzeigen und auch in den sozialen Medien. „Über die Schule hat sich jetzt eine Dame gemeldet. Wenn es passt, haben wir eine Schulassistenz. Wenn nicht, muss ich in meinem privaten Umfeld weitersuchen, denn die Träger habe ich alle durch", berichtet die Mutter. Kein niedersächsisches Problem: Auch in Bremen-Nord fehlen Fachkräfte, die Kinder mit Beeinträchtigungen im Schulalltag begleiten.
Lucan ist Autist und besucht eine Grundschulklasse in Osterholz-Scharmbeck. Veränderungen im Stundenplan, ein unerwarteter Raumwechsel, ein Streit auf dem Schulhof – all das seien Situationen, bei denen Lucan Unterstützung benötige, so seine Mutter. Doch die gibt es bisher nicht. „Die ersten Tage bin ich als seine Schulassistenz mit in die Schule gegangen. Jetzt hat er niemanden. Wir machen es so, dass ich zu Hause auf Abruf sitze.“ Dass die Familie in diese Notlage kam, habe mit den Landesgrenzen zu tun: "Wir hatten relativ frühzeitig eine tolle Dame über den Martinsclub. Doch dann fiel ihnen genau eine Woche vor Schulstart auf, dass sie den Paragrafen gar nicht mehr außerhalb von Bremen bedienen können, da ihnen selber innerhalb von Bremen so viele Arbeitskräfte fehlen."
Wie Ludwig Lagershausen als Sprecher des Martinsclub erklärt, habe der Martinsclub keine Leistungsvereinbarung mit dem Nachbarkreis. Soll heißen: „In Landkreisen, wo es diese Vereinbarung nicht gibt, werden angefragte Stellen nur dann bedient, wenn es personell zu leisten ist. Das war in diesem Fall nicht möglich, was sehr bedauerlich ist.“ Insgesamt seien Personallage und Bewerberlage instabil: „Bewerberinnen und Bewerber, die zugesagt haben, treten die Stellen häufig doch nicht an, es ergeben sich oft sehr kurzfristig Änderungen.“
Wie viele Schulassistenten fehlen in Bremen-Nord?
„Das lässt sich nicht so ohne Weiteres beziffern“, berichtet Wolf Krämer aus dem Sozialressort. Vor den Sommerferien seien 170 Assistenten-Stellen im gesamten Stadtgebiet ausgeschrieben gewesen, davon 42 in Bremen-Nord. Krämer: „Wie viele dieser Stellen mittlerweile besetzt werden konnten, ist bei uns nicht bekannt. Jedenfalls ist bei den Stellenbesetzungen im Moment noch viel Bewegung drin.“
Wie viele Stellen sind im Nachbarkreis unbesetzt?
„Diese Information haben wir nicht“, berichtet auch Sven Sonström, Sprecher des Landkreises Osterholz. Im vergangenen Schuljahr 2021/2022 seien vom Landkreis 200 Bewilligungsbescheide ausgesprochen worden. Sonström geht davon aus, dass die Zahl für das Schuljahr 2022/2023 ähnlich hoch ist. Die zuständige Fachstelle rechnet auch nach Schuljahresbeginn noch mit weiteren Anträgen von betroffenen Eltern.
Was sagen betroffene Eltern?
„Es ist eigentlich ein Skandal: Wenn man ein besonderes Kind hat, wird man total allein gelassen. Wir wissen nicht, was uns zusteht und wo man was beantragt. Inklusion ist in Deutschland noch nicht angekommen“, meint Imke Bormann. Die Alleinerziehende hat zwei Kinder mit Beeinträchtigungen. Viele Eltern seien überfordert. Imke Bormann: "Es ist ein Wahnsinn, was Eltern alles tun müssen, damit das Kind am Ende einen guten Schulbesuch hat.“ Sie habe so viel im Internet recherchiert, "dass mich inzwischen auch andere Mütter von autistischen Kindern anrufen und fragen: ‚Hilfst du mir?‘“
Wer hilft betroffenen Eltern?
„Uns ist bewusst, dass sich Eltern und Kinder in einer äußerst schwierigen Situation befinden, wenn keine Betreuung gewährleistet werden kann“, so Ludwig Lagershausen vom Martinsclub. Eltern könnten etwa die Schule kontaktieren, um nach Einzelfalllösungen zu suchen. „Braucht das Kind wirklich durchgehend Betreuung oder kommt es auch eine Zeit lang alleine klar?“ Eltern sollten auf jeden Fall mit der Schule und dem zuständigen Case Management beim Amt für Soziale Dienste im Gespräch bleiben, rät auch Wolf Krämer aus der Sozialbehörde in Bremen.
Was passiert aktuell bei den Trägern?
„Wir organisieren zurzeit etwa 190 bis 200 Integrationsassistenzen“, berichtet Olaf Bargemann, Geschäftsführer der Lebenshilfe Osterholz. Zurzeit habe die Lebenshilfe erst 185 Maßnahmen besetzen können. „Die Anzahl der aktuell nicht besetzten Maßnahmen liegt bei etwa fünf bis sieben von Hundert“, so der Geschäftsführer der gemeinnützigen Gesellschaft. Allerdings stelle die Lebenshilfe aktuell noch täglich neue Assistenzkräfte ein.
„Von den beim Martinsclub angefragten Stellen in Bremen-Nord kann der Martinsclub momentan weniger als zehn Prozent nicht besetzen, was angesichts des eklatanten Fachkräftemangels verhältnismäßig wenig ist“, so Ludwig Lagershausen. Die Einrichtung steuere aktiv gegen den Fachkräftemangel. So bietet der Martinsclub jährlich eine Ausbildung im Fach Heilerziehungspflege an. Gern würde der Martinsclub auch in Kooperation mit dem Paritätischen Bildungswerk Quereinsteiger zu Schulassistenzen auszubilden. Doch hierfür fehle die Finanzierung.
Warum gibt es zu wenig Assistenten?
Auch in den Kitas bestehe ein großer Bedarf an pädagogischem Fachpersonal, sagt Wolf Krämer aus der Bremer Sozialbehörde. Der Senat habe deshalb kaum Möglichkeiten, den Fachkräfteanteil in den Schulen zu erhöhen. Das Dilemma: „Ein verstärktes Einwerben der pädagogischen Fachkräfte mit staatlicher Anerkennung für die Schulbegleitung vergrößert die Versorgungslücken in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge.“
„Leider ist die Leistung der im sozialen Bereich tätigen Menschen nach wie vor nicht hoch genug angesehen. Hier müsste der Staat Anreize setzen – finanziell sowie allgemein mit der Schaffung akzeptabler Arbeitsbedingungen, um dem Mangel langfristig entgegenzuwirken. Zwar gab es diese Problematik schon lange vor Corona, die Pandemie hat die Situation jedoch weiter verschlimmert. Viele Fachkräfte sind nach über zwei Jahren Pandemie ausgebrannt“, meint Ludwig Lagershausen, Sprecher des Martinsclubs.