Herr Röhr, in der Vegesacker Fußgängerzone halten sich in diesem Sommer augenfällig mehr Wohnungslose auf als in den Vorjahren. Ein Mann hatte zwischenzeitlich sogar Matratze, Tisch und Stühle mitgebracht und sich unter dem Vordach eines Ladens eingerichtet. Wie viele Menschen ohne Unterkunft gibt es zurzeit im Stadtteil?
Thomas Röhr: Eine offizielle Zahl für Bremen gibt es nicht. Man ist auf Schätzungen angewiesen. Wir stellen aber auf jeden Fall fest, dass die Zahl zunimmt. Es sind täglich 50 bis 60 Personen, die den Szenetreff am Aumunder Heerweg aufsuchen. Die Tendenz ist steigend. Nicht nur in Bremen-Nord, auch an unseren anderen Szenetreffs am Lucie-Flechtmann-Platz oder im Nelson-Mandela-Park hinterm Bahnhof. Wir sind mal mit 25 bis 30 Personen pro Tag gestartet, aber es steigert sich täglich. Es gibt auch nicht nur eine zahlenmäßige Verschiebung, sondern auch eine inhaltliche Verschiebung: Es kommen zunehmend mehr Leute, die nicht nur wohnungslos sind, sondern ein Drogen- und insbesondere ein Crackproblem haben.
Wohnungslose in der Fußgängerzone berichten, dass sie vom Szenetreff verdrängt werden…
Diese Erfahrung deckt sich mit unserer Erfahrung. Wohnungslose berichten unseren Streetworkern, dass sie wegen der Drogenkonsumenten nicht kommen wollen. Es heißt: ‚Das ist mir zu aggressiv oder zu gefährlich.‘ Ich werde mit meinem Problem nicht gehört. Es kann sein, dass diese Wohnungslosen in die Fußgängerzone abwandern. Wir können aber nicht sagen, wo die Menschen abbleiben. Sie kommen und gehen, wie sie wollen. Mit dem Szenetreff betreiben wir offene Sozialarbeit. Was wir sagen können, ist, dass sich die Probleme verlagern. Und außerhalb des Szenetreffs haben wir keine Zugriffsmöglichkeit.
In anderen Orten gibt es sogenannte Obdachlosen-Lotsen. Reicht die Zahl der Ansprechpartner für Wohnungslose in Bremen-Nord noch aus?
Wir beschäftigen bei der Inneren Mission neben der Streetworkerin Gimmy Wesemann mit 30 Wochenstunden, die über den Gemeindeverbund Aumund-Vegesack finanziert wird, neuerdings noch eine zweite Teilzeitkraft mit 14 Wochenstunden. Die wird über die Fachstelle Soziales bezahlt. Wir sind froh, dass wir in Bremen-Nord mit zwei Köpfen vertreten sein können. Wir wollen aber in die Richtung gehen, dass es eine weitere Aufstockung gibt, um die Besucher des Szenetreffs einigermaßen gut betreuen zu können. Denn am Szenetreff zu arbeiten, ist ein Knochenjob. Früher hatten wir dort nur Wohnungslose mit Drogenproblemen. Heute geht es bei vielen nur um die Beschaffung von Stoff, wodurch wir kaum noch Zugang zu den Menschen finden, um ihre Alltagsprobleme zu lösen. Sie denken nur daran, wie sie die nächsten fünf Euro bekommen, um Crack zu besorgen. Die Verelendung ist sehr hoch. Aber um mehr Ansprechpartner zu bekommen, sind wir auf die Unterstützung der Politik und der Sozialbehörde und auf Spenden zugunsten der Wohnungslosenhilfe angewiesen.
Wie viele Beschwerden aus der Nachbarschaft des Szenetreffs erreichen Sie derzeit?
Wir werden natürlich mit Beschwerden aus der Nachbarschaft konfrontiert, weil sich süchtige Wohnungslose auch in den umliegenden Einrichtungen aufhalten. Das bleibt nicht aus. Wir wünschen uns deshalb eine gute Zusammenarbeit, was schwierig ist. Aber wir sind im regelmäßigen Austausch.
Wurde bereits die Forderung nach einer Schließung des Szenetreffs aufgestellt?
Aus Nord ist mir das nicht bekannt. Nur vom Lucie-Flechtmann-Platz. Dort ist das Umfeld so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass immer wieder Nachbarn fordern: ‚Macht das Ding zu‘. Aber wir haben diese Klientel. Toleranzräume und akzeptierte Orte sind notwendig. In dem Zwiespalt stehen wir. Wir versuchen, es allen Seiten recht zu machen. Das ist unsere Grundsituation, in der wir leben.
Vor Jahren hat ein Bündnis angeregt, eine Art Frühwarnsystem einzurichten, das rechtzeitig Menschen meldet, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Inwiefern greift das System?
Es gibt den Szenebeirat, dazu zählt nicht nur die Innere Mission, sondern auch andere Einrichtungen wie die Bremische Evangelische Kirche mit Pastorin Ulrike Bänsch, der sich regelmäßig trifft. Da wird schon der ein oder andere aufgefangen, der akut von Wohnungslosigkeit bedroht ist. Von einem ‚Frühwarnsystem‘ zu sprechen, wäre zu viel. Aber wir versuchen, Kontakt aufzunehmen und Personen zu vernetzten. Dabei verweisen wir auch immer an die Fachstelle Wohnen.
Warum gibt es heute mehr Wohnungslose?
Mehrere Trends spielen eine Rolle. Die soziale Schere klafft weiter auseinander. Das hat einerseits mit steigenden Kosten zu tun, zu hohen Preisen und Mieten. Sodass viele es nicht schaffen, sich aus eigener Kraft zu retten, wenn sie arbeitslos werden und landen auf der Straße. Seit Corona sind auch viele Aushilfsjobs weggefallen. Es spielt auch eine Rolle, dass viele Menschen kein soziales Umfeld mehr haben. Es fehlt an Familie und Freunden, die in finanziellen Notlagen unterstützen könnten.
Die Fragen stellte führte Patricia Brandt