Im Fegefeuer büßen die Verstorbenen ihre Schuld ab – die Sünden, die sie auf Erden begangen haben. Erst dann dürfen sie in das Reich Gottes eingehen. Doch die Frage, wer in welchem Maß schuldig ist, lässt sich in modernen Zeiten alles andere als leicht beantworten.
Mit dem Zwei-Personen-Stück Purgatorio des chilenischen Autors Ariel Dorfman feierte das Statt-Theater Vegesack im Gustav-Heinemann-Bürgerhaus Premiere und fand beim Publikum begeisterten Anklang: stehende Ovationen zum Schluss, nicht zuletzt auch, weil die beiden Darsteller, Anni Bulke und Kai Howald, den umfangreichen Text eindrucksvoll und voller Leidenschaft zur Aufführung brachten.
Ariel Dorfmann, geboren 1942 in Argentinien, verbrachte seine Kindheit in den USA, zog aber 1954 nach Chile, wo er Literaturwissenschaft lehrte und dort auch unter der Diktatur von Augusto Pinochet leben musste. Purgatorio ist ein vergleichsweise junges Werk, es wurde erst 2011 in Madrid uraufgeführt.
In diesem Stück ist das Fegefeuer ein schlichtes Zimmer mit schwarzem Vorhang, in dem sich nur ein Tisch, zwei Stühle und ein Bett befinden. Die extreme Nüchternheit des Interieurs lässt eher an den Raum einer Irrenanstalt oder an ein Gefängnis denken. Auch, wer die Frau und der Mann eigentlich sind, die auf der Bühne stehen, bleibt zunächst unklar. Namen haben sie nicht. Doch das Messer auf dem Tisch, und später bedrohend in der Hand, deutet an, dass etwas Schreckliches vor sich geht.
Nach und nach kommt ans Licht, dass beide eine Schuld tragen: Die Frau hat aus Rachsucht ihre Kinder und die Geliebte ihres Mannes ermordet, der ist aber auch schuldig, weil er eine andere Frau genommen hat.
Damit ist der Bezug zu einer der berühmtesten Frauengestalten der griechischen Antike unübersehbar: zu Medea, einer Zauberin, die sich in Jason verliebte, der sich jedoch einer anderen Frau zuwandte und damit ihre Rachsucht schürte. Medea beging darauf hin mehrfachen Mord, darunter auch an ihren eigenen Kindern. Die Tragödie Medea von Euripides wurde bereits im Jahre 431 vor Christus aufgeführt und stellt die zeitlose Frage nach menschlicher Schuld, und ob und wie eine Vergebung möglich ist.
In Purgatorio jedoch wird das reinigende Fegefeuer aus der christlichen Tradition ins Spiel gebracht – bald wird klar, dass die Bühne ein Vorzimmer zum Himmel ist, in dem jeder nach seiner Schuld abgeklopft wird.
In Dialogen, die sich immer weiter aufheizen, wird die Angelegenheit immer komplizierter. Denn die Rollen wechseln im Stück, was sich auch in der schwarzen und weißen Kleidung zeigt, die mal der Mann, mal die Frau trägt. Manchmal ist nicht einmal klar, wer hier wen befragt oder verhört.
Ist der Mann ein Psychiater? Er sagt zur Frau: „Mal sehen, was wir heute für Fortschritte machen werden.“ Doch die wehrt sich: „Sie haben in meiner Vergangenheit herumgewühlt wie ein Geier.“ Allmählich jedoch ist die Frau gezwungen, sich ihren vergangenen Handlungen zu stellen.
Bald wird klar, dass sie sich Illusionen hingegeben hat, auch als sie den Mann ihrer Träume kennenlernte – und der bald eine andere nahm. Doch dann wechselt der Mann seine Rolle: Er ist bereit, die Rolle des einstigen Geliebten zu übernehmen, und nach immer eindringlicheren Fragen seinerseits werden die schrecklichen Taten der Frau noch einmal zum Leben erweckt, und nun kann sie ihre Tränen nicht mehr halten. Denn sie hat ihren ältesten Sohn vor den Augen des jüngeren Sohnes getötet.
Der Mann trägt nach weißer Kleidung plötzlich schwarze: Er soll, nachdem er Selbstmord begangen hat, vom Purgatorium wieder zurück auf die Erde geschickt werden, doch er fürchtet, dort die Mörderin wiederzusehen. Im Duett singen die Schauspieler: „Wenn du erst mal mein wahres Gesicht gesehen hast, wirst du mich nie mehr vergessen.“ Doch was ist das wahre Gesicht? Bleibt es hinter Rollen verborgen? Und in welchen Situationen zeigt es sich?
Das spannungsgeladene Verwirrspiel voller psychologischer Finessen stellt – auch angesichts der Textmassen, die in den 75 Minuten der Aufführung gesprochen werden – große Anforderungen an die Schauspieler. Sie werden von Anni Bulke und Kai Howald mehr als erfüllt.