Was nicht sogleich ins Auge fällt, hat es schwer, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Dass es funktioniert, zeigen seit einem halben Jahr die Lauschorte, die das Bremer Literaturkontor und das Kammerensemble Konsonanz gemeinsam geschaffen haben. Sieben der Bremer Sehenswürdigkeiten sind um Literatur und Musik bereichert worden. Das Akustikprojekt ist mittlerweile auch als Hingucker aufgefallen: Die Bremer Agentur Aheads, die für das Design und die technische Umsetzung der Online-Plattform verantwortlich ist, hat dafür kürzlich den Deutschen Agenturpreis erhalten.
Die Bremer Stadtmusikanten am Rathaus, das Mahnmal für die Opfer der Novemberpogrome 1938, die Bark „Alexander von Humboldt“ am Martinianleger, der Lichtbringer an der Böttcherstraße, der Hirte mit den Sögestraßen-Schweinen, der Gesche-Gottfried-Spuckstein auf dem Domshof und das benachbarte Bismarck-Reiterstandbild bilden einen „digitalen literarisch-musikalischen Audiowalk“. So nennen die Schöpferinnen und Schöpfer ihre auf Dauer angelegte Installation: An oder in der Nähe der Objekte sind Hinweistafeln mit QR-Codes angebracht. Damit lässt sich auf dem Smartphone die mit Musik unterlegte jeweilige Interpretation der Geschichte abrufen.
Wer es ausprobiert, merkt sofort: Ein gewöhnlicher Audioguide mit Musik ist das nicht. „Wie könnt ihr so was Sühne nennen?“, beginnt der Text zum Mahnmal aus geschwärztem Beton zum Gedenken an die Bremer Pogromopfer. Besucher der „Alex“ werden ermuntert, „einen Fuß auf die ächzende Bark“ zu setzen, auf einen „tonnenschweren Erinnerungsspeicher“, „im Wind gealtert, heimgekehrt, über hundertjährig“. Am Reiterstandbild Otto von Bismarcks, dem „Mann aus Bronze auf seinem ostelbischen Gaul“, erfahren die als „ihr Flaneure“ angesprochenen Zuhörer, dass der ehemalige Reichskanzler und „Deichhauptmann von der Elbe“ ein schlechter Reiter gewesen sein soll. Und das Goldrelief des Lichtbringers am Eingang der Böttcherstraße? Das erzähle in Wahrheit mehr als eine Geschichte und sei eher „den Mächten der Finsternis“ gewidmet, als dass es dem Erzengel Michael huldigt.
Die Texte stammen von Bremer Autorinnen und Autoren. Schauspielerinnen und Profisprecher haben sie im Sendesaal vertont. Es gibt deutsch- und englischsprachige Versionen. Sieben professionelle Ensembles der freien Bremer Szene steuern die Musik bei. „Wir haben immer wieder positive Rückmeldungen“, sagt Jens Laloire vom Bremer Literaturkontor. Die sogenannten „Klickzahlen“ seien „okay, aber ausbaufähig“. Die Konkurrenz um Aufmerksamkeit sei groß in der Innenstadt. „Und als Bremer guckt man nicht so drauf.“ Zum Frühjahr hin wollen die Initiatoren noch einmal die Werbetrommel rühren und Impulse geben, wie ihr „nachhaltiges Projekt“ auch genutzt werden könnte: zum Beispiel für Schulexkursionen. „Einige Stadtführer haben die Lauschorte schon für sich entdeckt“, sagt Jens Laloire. Und die zwischen drei und achteinhalb Minuten langen Hörstücke und Musik ließen sich auch über Funklautsprecher abspielen.
Die sieben Lauschorte sind im Zusammenhang mit dem Bremer Aktionsprogramm Innenstadt entstanden und mit rund 66.000 Euro ausgestattet worden. „Uns war es wichtig, gute Honorare zu zahlen“, sagt Jens Laloire zur „Förderung der professionellen Produktion in Corona-Zeiten“. Das Team hatte mehr als 30 Vorschläge zur Auswahl. Sobald sich Finanzierungsmöglichkeiten für weitere Stationen auftun, könnte es zusätzliche Lauschorte geben. Laloire fallen sofort Beispiele ein, wie sich der Hörparcours erweitern ließe, etwa der Hanseatenhof, das Ansgaritor, das Rathaus, das Galeria-Kaufhof-Gebäude „und vielleicht ein paar randständigere Sachen“.
Die Lauschorte übrigens können bei Schmuddelwetter auch von lauschigen Orten wie dem heimischen Sofa aus besucht werden: Die Hörenswürdigkeiten sind nicht nur in der Innenstadt, sondern auch im Internet leicht zu finden. Flyer mit den QR-Codes liegen zudem bei der Tourismuszentrale aus.