Stellen wir uns vor, hier in Ihrem Büro stünde ein riesiger Geburtstagskuchen zum Jubiläum auf dem Tisch. Herr Schierenbeck, Sie dürften die vielen Kerzen auspusten. Welchen Wunsch haben Sie für die Arbeitnehmerkammer?
Ingo Schierenbeck: Ich würde mir wünschen, dass wir als Arbeitnehmerkammer noch stärker politisch Einfluss nehmen könnten. Die Belange von Beschäftigten haben in unserer Gesellschaft nicht den Stellenwert, den sie haben müssten.
Wo macht sich das bemerkbar?
Wir erleben eine wachsende soziale Spaltung – auch unter den Beschäftigten. Während einige über Tarifverträge relativ gut abgesichert sind und ein gutes Einkommen erzielen, sind andere prekär beschäftigt im Niedriglohnbereich. Diese beiden Gruppen driften immer mehr auseinander.
Wer sollte denn da besser hinhören und etwas tun?
In Bremen hat man uns als Arbeitnehmerkammer in den vergangenen Jahrzehnten ganz gut gehört. Sonst gibt es aber nur im Saarland eine vergleichbare Institution. Die Unternehmen werden dagegen stets von den Verbänden und Innungen sowie zugleich von den Kammern vertreten. Ihr politischer Einfluss im Bund ist dadurch ungleich größer. Mein Wunsch wäre also, dass es nach 100 Jahren Arbeitnehmerkammer eine solche Institution auch in anderen Bundesländern und auf Bundesebene gibt.
Um mehr im Sinne der Beschäftigten zu bewegen?
Ja. Häufig heißt es: Wir haben doch eine Gewerkschaft. Wozu brauchen wir da noch eine Arbeitnehmerkammer? Wir sind Partner auf der Seite der Beschäftigten, aber mit unterschiedlichen Aufgaben. Während Gewerkschaften vorrangig Arbeitsbedingungen und Löhne über Tarifverträge mitgestalten, ist unsere Aufgabe, auf Politik und Verwaltung einzuwirken.
Was sollte gegen die Spaltung konkret getan werden? Hat zum Beispiel der Mindestlohn geholfen?
Die Einführung des Mindestlohns war ein großer Fortschritt, um die Erosion von Einkommen nach unten zu stoppen, doch er steigt zu langsam und ist immer noch nicht existenzsichernd. Selbst wer Vollzeit beschäftigt ist, muss in der Regel noch aufstocken. Der Mindestlohn muss dringend schneller steigen und darf nicht zwölf Euro unterschreiten.
Welchen Vorschlag gibt es noch?
Unsere Position ist außerdem, dass es ein Recht auf Weiterbildung geben muss. Das ist ganz entscheidend. Ein Grund für die Spaltung ist, dass es viel zu viele Menschen gibt, die über keine abgeschlossene Ausbildung verfügen. Aus unserer Sicht ist erforderlich, dass diejenigen ein Recht haben, eine Ausbildung nachzuholen, weil sie zukünftig auf dem Arbeitsmarkt sonst kaum noch eine Chance haben.
Wo sehen Sie die größten Probleme auf dem Bremer Arbeitsmarkt?
Bremen ist immer noch das Bundesland mit der höchsten Arbeitslosenquote. Der entscheidende Grund ist, dass der Anteil der Arbeitslosen ohne abgeschlossene Berufsausbildung sehr groß ist. Wir brauchen im Land Bremen darum eine Initiative für Qualifizierung, um diesen Menschen eine Beschäftigungsperspektive zu geben. Ein weiteres Problem ist die Jugendarbeitslosigkeit. Zu viele junge Menschen haben keine Ausbildung begonnen. Da wird der Schwarze Peter hin- und hergeschoben, woran das liegt. Fakt ist, dass wir zu wenig Ausbildungsplätze für die Bewerberinnen und Bewerber haben. Wenn wir hier nicht reagieren, dann entsteht die nächste Generation, die Gefahr läuft, im Hartz-IV-Bezug zu bleiben.
Welche Auswirkungen wird Corona langfristig auf Beschäftigung in Bremen haben?
Wir sprechen immer davon, dass der Arbeitsmarkt recht robust geblieben und es durch die Kurzarbeit nicht so schlimm wie befürchtet gekommen ist. Tausende Minijobber haben aber ihren Arbeitsplatz verloren, weil die Branchen besonders betroffen sind, die eine hohe Quote haben. Da ist die große Frage, ob die Beschäftigten in die Branchen zurückkehren werden. Außerdem sind mit dem Homeoffice gute Erfahrungen gemacht worden. Aus unserer Sicht ist es erforderlich, dass Beruf und Privatleben stärker in Einklang gebracht werden durch den Einsatz von Homeoffice. Wir können uns vorstellen, dass das für beide Seiten ein Gewinn ist und plädieren deshalb, wo es betrieblich möglich ist, für einen Rechtsanspruch auf Homeoffice.
Alle Beschäftigten in Bremen und Bremerhaven sind automatisch Mitglied bei Ihnen – das ist Pflicht. Wenn Sie Menschen erzählen, dass Sie Chef der Arbeitnehmerkammer sind, ist allen das Beratungsangebot bekannt?
Wenn ich zurückschaue, würde ich sagen, dass wir deutlich bekannter geworden sind. Das liegt vor allem daran, dass sich die Arbeitnehmerkammer jenseits ihres politischen Auftrags zu einer großen Dienstleistungseinrichtung entwickelt hat. Wir haben das immer weiter ausgebaut, um den Mitgliedern den Mehrwert der Pflichtmitgliedschaft aufzuzeigen. Wir beraten zum Arbeitsrecht, zur Weiterbildung oder helfen im Falle einer Berufsunfähigkeit. Im letzten Jahr haben wir erstmalig über 100.000 Beratungen gemacht.
Im Moment gibt es hier Bauarbeiten. Die Arbeitnehmerkammer wächst.
Ja, wir bauen, weil die Nachfrage so groß ist. Wir sind am Limit. Wir mussten teilweise schon Nachfragen verschieben. Das ist nicht gut. Wenn Sie ein Problem mit Ihrem Arbeitgeber haben, dann wollen Sie nicht zwei Wochen warten, sondern es sofort loswerden.
Wann begann eigentlich Ihre Arbeitsbiografie? Was war der erste Job?
Ich habe ein paar Jahre als Tankwart auf einem großen Autohof vor den Toren Bremens gearbeitet.
Und wie war das so?
Das hat mir sehr viel Spaß gemacht, weil ich damals an Mopeds gebastelt habe. Da war die Tankstelle der ideale Arbeitsplatz, das ein oder andere fiel für meine Mopeds ab. Ich habe die Autos betankt, nach dem Öl geschaut und immer die Scheiben geputzt – in der Hoffnung auf 50 Pfennig Trinkgeld. Ich habe mich da total wohlgefühlt. Ich glaube, am Ende habe ich Glück gehabt, dass ich nicht Tankwart geblieben bin. Der Job ist ja wegrationalisiert worden.
Was haben Sie damals gelernt?
Den Umgang mit vielen unterschiedlichen Menschen. Und das lässt sich auf die Arbeitnehmerkammer übertragen. Wie bei meinen Kunden damals auf der Tankstelle gilt: Wir müssen darauf achten, dass wir so sind, wie die Mitglieder es wünschen.
Das Gespräch führte Lisa Boekhoff.