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Interview über Arbeitsmarkt Enzo Weber: "Deutschland führt zu viel Abstiegskampf"

Enzo Weber hält als Wissenschaftler vom IAB, dem Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit, bei Bremens Arbeitslosenquote eine Fünf vor dem Komma für möglich. Im Interview sagt er, was es dafür braucht.
12.07.2025, 05:00 Uhr
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Enzo Weber:
Von Florian Schwiegershausen

Herr Weber, bei der Auswertung unserer Daten stellen wir immer fest, dass die Arbeitslosenzahlen zu den am wenigsten gelesenen Texten gehören. Was ist für Sie das Faszinierende an Arbeitsmarktstatistik?

Enzo Weber: Das Faszinierende an diesen Zahlen ist, dass sie ganz oft das Gegenteil von dem widerspiegeln, was in der öffentlichen Debatte scheinbar als Fakt gesetzt ist – beispielsweise die Wahrnehmung, dass alle Leute immer früher in Rente gehen wollen und keiner mehr weiterarbeitet. Oder welche Wahrnehmung sich um die Generation Z breitmacht, dass die total faul sei. Aber die Zahlen zeigen einfach genau das Gegenteil. Es arbeiten auch so viele Ältere wie noch nie. Das heißt, Zahlen helfen dabei, sich auf Lösungen zu konzentrieren. Die können da ansetzen, wo es auch etwas bringt, und nicht da, wo man Scheindebatten führt.

Inwiefern könnte das geringe Interesse aber an den gleichbleibend hohen Arbeitslosenzahlen im Land Bremen liegen?

Wenn Zahlen auf einem hohen Level stagnieren, dann ist das irgendwann keine Nachricht mehr, dass Bremen da irgendwie ein Problem hat. Am Ende geht es natürlich auch darum, wo das eigentlich herkommt. Da sind wir gerade in erheblichen Umbrüchen, und Bremen ist voll mit drin. Bremen hat die höchste Exportquote in die USA von allen Bundesländern, was an einem bestimmten Autowerk liegt, das alle in Bremen kennen. Gleichzeitig läuft aber auch eine Energiewende, bei der der Norden eine besondere Rolle spielt. Es gibt Probleme, es gibt aber auch Chancen, dass Neues entsteht. Beides gilt für Bremen in hohem Maße. Diese Erneuerung kann man momentan noch nicht so richtig auf die Straße bringen, unter Druck geraten wir trotzdem durch die Transformation. Daher rührt die Krise.

Seit mehr als zehn Jahren hören wir in Bremen, dass das Matching nicht passe – die offenen Stellen passen also nicht zu den Berufen der Arbeitslosen. Die aktuelle Arbeitslosenquote im Land Bremen liegt bei 11,5 Prozent. Was würden Sie als Erfolg für das kleinste Bundesland werten?

Bremen hat es schon mal durch seine Lage schwerer, weil drumherum nicht viel ist. Wenn also in einigen Bereichen viel Neues entsteht, wo man in der Arbeitsmarktregion stärker diversifiziert ist, gibt es viel mehr Möglichkeiten, in Zeiten von Transformation auszugleichen. Man hat aber sicherlich den Vorteil der Nordseeküste mit der Energiegewinnung, also gerade im industriellen Bereich.

Macht Bremen etwas schlechter als andere?

Wir haben auch in ganz Deutschland seit drei Jahren eine steigende Arbeitslosigkeit. Es erwischt inzwischen auch die starken Industriestandorte. Baden-Württemberg ist erheblich unter Druck. Da kann man sich schon fragen: Wenn es schlecht läuft, entsteht da das neue Ruhrgebiet? Die Zulieferbetriebe dort waren über Jahrzehnte eine Gelddruckmaschine. So war es auch mit dem Bergbau im Ruhrgebiet. Das sind im Süden Regionen, die bei der Arbeitslosenquote bisher nur eine Zwei vor dem Komma haben. Das kommt also schon der Vollbeschäftigung nahe.

Davon ist Bremen weit entfernt.

Das wird man jetzt in Bremen so nicht erwarten können. Da muss überhaupt erst mal der Trend in die andere Richtung her. Das ist jetzt die große Herausforderung. Ich gehe aber davon aus, dass es auch in Bremen möglich ist, zumindest einen mittleren Wert zu schaffen. Eine Fünf vor dem Komma müsste möglich sein.

Im vergangenen Jahr war das Bremer Jobcenter in finanzieller Schieflage. Das hatte sich bis zu Ihnen nach Nürnberg herumgesprochen. Inwiefern bewertet das IAB auch die Arbeitsabläufe der Bundesagentur für Arbeit und bei den Jobcentern?

So detailliert eher selten. Wir schauen uns Maßnahmen an oder zum Beispiel Betreuungsschlüssel. Wir können auch qualitativ reinschauen und Menschen unmittelbar befragen, wie sie bestimmte Betreuungen in bestimmten Programmen wahrnehmen.

Sie sprechen den Betreuungsschlüssel an. Wir haben derzeit etwas mehr als 2,9 Millionen Arbeitslose. Bei der Bundesagentur für Arbeit inklusive Jobcenter sind es gut 113.000 Beschäftigte. Es gibt immer wieder einige, die rechnen das stumpf gegeneinander und sagen dann, das macht ja 28 Arbeitslose pro einen Beschäftigten bei der Bundesagentur für Arbeit. Was sagen Sie denjenigen, die diese Rechnung nutzen, um bessere Ergebnisse einzufordern?

Die BA ist eine Organisation mit mehr als 100.000 Mitarbeitern. Das ist also ein Großkonzern, der dafür verantwortlich ist, die Arbeitsmarktpolitik im gesamten Land umzusetzen. Das ist nicht trivial. Dafür braucht man natürlich auch eine IT, die auf der Höhe der Zeit ist und weiterentwickelt wird. Und man braucht natürlich das Backoffice. Die vielen Menschen, die auf Bürgergeld angewiesen sind, die am Existenzminimum sind, haben Anrecht darauf, dass die finanziellen Dinge solide funktionieren. Da kann nicht jeder Beratungsgespräche führen.

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Sondern?

Gerade in Langzeitarbeitslosigkeit gibt es viele schwierige Lebenslagen. Man muss sich individuell darum kümmern, und das verlangt menschlichen Einsatz. Das sind aber Mittel, die werden am Ende im sogenannten Verwaltungskostenbudget zusammengefasst. Das ist schon skurril. Denn genau da kann man nachweisen: Bei individueller Betreuung gibt es dann auch mehr Vermittlung. Ein Fall der Arbeitslosigkeit kostet pro Jahr mehr als 25.000 Euro. Es lohnt sich also, da etwas zu investieren in Richtung Beschäftigung.

Inwiefern können Sie aus wissenschaftlicher Sicht sagen, mit welcher Maßnahme man am besten Menschen wieder in Beschäftigung bekommt?

Man braucht mehrere Dinge, um das Ruder rumzukriegen. Wir haben im Moment so wenig Stellenausschreibungen wie noch nie. Das ist dem Wirtschaftsabschwung und der großen Unsicherheit und Strukturkrise geschuldet. Das ist eine wirtschaftspolitische Frage, jedoch muss man auch am Arbeitsmarkt einfach alle Register ziehen. Da führen wir immer so eine Entweder-oder-Diskussion.

Inwiefern?

Sollen wir alle sofort in Jobs bringen oder qualifizieren, sollen wir mehr Druck ausüben oder sollen wir mehr unterstützen? Brauchen wir mehr Verpflichtung oder mehr Anreize?

Und was brauchen wir Ihrer Meinung nach?

Wir brauchen alles davon, also auch hinreichend verbindliche Regeln. Wir brauchen aber auch die individuelle Unterstützung, über die wir gesprochen haben. Wir brauchen mehr Investitionen in Qualifizierung, die auch in Bürgergeldzeiten übrigens noch gar nicht angestiegen ist. Das muss überhaupt erst mal kommen, und wir brauchen bessere finanzielle Anreize, damit man seinen Job ausweitet. Wer das macht, sollte davon deutlich mehr unterm Strich haben. Das ist im Moment oft nicht so. Im Paket wird man dann auch wieder in die andere Richtung kommen.

Jetzt waren Sie auf Einladung der IG Metall in Bremen. An welchem Punkt steht der Wandel in der Industrie?

Das Positive, das unsere Studienlage eindeutig zeigt, ist, dass Transformation nicht automatisch zu Deindustrialisierung führt. Auch Energiewende, Verkehrswende und Wasserstoffwirtschaft – alles das kann viele industrielle Geschäftsmodelle und Industriearbeit neu hervorbringen.

Kann. Aber es passiert noch nicht oft, oder?

Transformation heißt Umbruch. Da fällt etwas weg. Da gerät auch was unter Druck, angefangen mit Elektromobilität, wo es eben viel weniger Jobs als in der Verbrennerindustrie geben wird. VW wird in zehn Jahren weniger Beschäftigte haben als heute. Aber das muss nicht für die gesamte Industrie gelten. Die wenigsten Länder auf der Welt sind technologisch und bei den Qualifikationen so gut aufgestellt, um diese industrielle Transformation zu schaffen, wie Deutschland. Deutschland kriegt es im Moment nur noch nicht richtig hin, seine Stärken auch in die aufstrebenden Bereiche zu bringen, sondern führt zu viel Abstiegskampf, aber die Anlagen hätten wir eigentlich, um auch in der transformierten Industrie die Nummer eins zu sein.

Wie oft sitzen Sie mit dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit zusammen, um wissenschaftlichen Rat zu geben?

Das ist der erste Kunde für das IAB. Es gibt regelmäßige Austauschformate, aber es gibt auch anlassbezogene Gespräche. Also wenn jetzt ein Handelskrieg über uns hereinbricht, dann muss der Vorstand natürlich wissen: Womit muss man da rechnen? Dann geht es auch ganz schnell mal in Ad-hoc-Meetings. Das ist schon ein sehr enger Austausch. Es gibt natürlich weitere Stakeholder, das Bundesarbeitsministerium, genauso die gesamte Bundesregierung wie auch Verbände, Gewerkschaften, die Landesregierungen und die Europäische Kommission.

Wie blicken Sie aus Nürnberg in Richtung Bremen, wenn hier jetzt der Ausbildungsfonds auf den Weg gehen soll?

Ausbildung muss wieder nach vorne kommen. Die ist seit den 2010er-Jahren ausgetrocknet. Wir sehen da immense Engpässe im handwerklichen und im industriellen Bereich. Wir sehen gleichzeitig, dass es immer mehr junge Leute gibt, die keine Ausbildung haben. Und gleichzeitig gibt es mehr Stellen als Bewerbende. Häufig treten auch Passungsprobleme auf. Von daher, die zu belohnen, die ausbilden, und alle daran zu beteiligen, das ist nachvollziehbar. Man muss allerdings auch die Fakten der Marktlage sehen, und die sagen: Wir haben auch ein erhebliches Problem bei der Ausdünnung auf der Bewerberseite.

Das heißt?

Die genannte Maßnahme ist politisch bekanntlich umstritten. Man kann das so oder so sehen. Wir werden mehr brauchen, um Ausbildung zu schaffen, und da geht es in die Einzelarbeit, da geht es in die Berufsberatung, da geht es auch um niederschwellige Ansätze, um die an Bord zu kriegen, die sich vielleicht die zweijährige Ausbildung auf einen Schlag nicht zutrauen oder gar nicht reingehen wollen. Das werden mehr und mehr. Und es geht auch darum, Zugewanderte mit ihren Kompetenzen anzuerkennen und dann berufsbegleitend Qualifizierungsstrategien zu entwickeln – die in unserem System, was sie nicht gewohnt sind, dann am Ende zum Abschluss führen. Also da ist viel mehr an wirklich individueller arbeitsmarktpolitischer Arbeit drin, die da geleistet werden muss.

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Zum Schluss: Wenn Sie am Samstagabend auf einer Party eingeladen sind, wie viele Menschen konnten Sie da schon für das Thema Arbeitsmarktstatistik begeistern?

Ich bin Ökonom, kein Statistiker. Aber wenn statistische Ergebnisse die Lebenswirklichkeit von Menschen betreffen oder auch überraschen, wachen selbst die auf, die die Methodenvorlesung im Grundstudium verschlafen haben. Am Ende geht es darum, dass wissenschaftliche Analyse gesellschaftliche Debatten und Entscheidungen voranbringen kann.

Das Interview führte Florian Schwiegershausen.

Zur Person

Enzo Weber (44)
leitet seit 2011 den Forschungsbereich Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Das IAB ist als Forschungsinstitut der Bundesarbeitsagentur angeschlossen. Weber ist auch Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung in Regensburg.
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