Herr Grobien, die Baumwollbörse ist an die 150 Jahre alt. Hat sie sozusagen der Globalisierung getrotzt oder hat sie sich angepasst, sodass sie die Veränderungen eines globalen Markts überleben konnte?
Fritz A. Grobien: Die Welt verändert sich ständig. Wenn man sich nicht mitverändert – einerlei ob als alteingesessenes Unternehmen oder als eine andere Institution – ist man schnell nicht mehr konkurrenzfähig. Das können wir uns nicht leisten, gerade auch deshalb nicht, weil wir es bei dem Rohstoff Baumwolle mit einer Materie zu tun haben, die auf allen fünf Kontinenten wächst, auf allen fünf Kontinenten gehandelt und verarbeitet wird. Zudem ist sie börsennotiert, das heißt, dass im Geschäft viel Bewegung ist, man muss grundsätzlich schnell reagieren.
Eine Anbindung an den Standort Bremen ist also eigentlich nicht nötig.
Unter der Baumwollbörse versteht man schon lange nicht mehr einen Platz, an dem sich Käufer und Verkäufer treffen. Sie ist vielmehr eine internationale Schiedsgerichtsstelle. Der Baumwollhandel hat seine eigene Jurisdiktion, nach der in Streitfällen entschieden wird. Das kommt nicht oft vor, meistens geht es um Auseinandersetzungen über die Qualität der Baumwolle, die unterschiedlich eingeschätzt wird. Die Bremer Baumwollbörse ist auch der internationale Mittelpunkt für Baumwollfaserprüfung und -forschung, Qualitätsschulung und Zertifizierung. Wir kooperieren eng mit der Baumwollbörse in Liverpool und dem Faserinstitut.
Man kann lesen, dass der Baumwollpreis stark schwankt. Gelegentlich ist sogar davon die Rede, dass im Baumwollhandel besonders aggressiv spekuliert werde. Was sagen Sie dazu?
Die Welt bewegt sich heute in einem enormen Tempo, Informationen stehen jedermann sehr schnell zur Verfügung, das macht den Preis. Beim Handel geht es kaum noch um die physisch verfügbare Ware von heute, sondern um die Ernte der Zukunft. Die Ware, die gehandelt wird, ist oft noch nicht einmal gepflanzt. Der Konsument erzwingt diese Art des Baumwollhandels: Wenn er ein T-Shirt einer bestimmten Marke kauft, vertraut er auf eine gleichbleibende Qualität. Wie kann man das garantieren, wenn sich die Basis, also der Rohstoff, in diesem Falle ein Naturprodukt, ständig verändert – sowohl qualitativ als auch preislich? Das stellt die Hersteller vor ein Problem, das nur auf diese Weise zu lösen ist.
Baumwolle wird gelegentlich auch als „weißes Gold“ bezeichnet. Trift das noch zu?
Wir hier in der Baumwollbörse sind in solchen Fragen selbstverständlich voreingenommen. Fakt ist, dass sich die Textilwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert hat, die Ansprüche an Kleidung oder auch Heimtextilien sind nicht mehr die von vor 50 Jahren. Heutzutage gibt es ein ganzes Bündel an Faser-Konkurrenz für die Baumwolle. Funktionstextilien zum Beispiel können nur eingeschränkt aus Baumwolle sein.
Sie haben angeblich einmal gesagt, der wahre Feind der Baumwolle sei Polyester.
Von Feind möchte ich nicht reden, aber die Hauptkonkurrenten der Baumwolle sind Polyesterfasern. Sie machen heute weltweit etwa 65 Prozent der verwendeten Fasern aus. Baumwolle liegt bei 25 Prozent. Viskose liegt mit vier Prozent Marktanteil schon auf Platz 3. Baumwolle hat gegenüber preisgünstigeren Textilien verloren, auch wegen der wachsenden Weltbevölkerung. Wir können acht Milliarden Menschen nicht mit Baumwolle versorgen. Aber Baumwolle hat nicht nur absolut, sondern auch relativ an Marktanteil verloren, das tut weh. 100 Prozent Baumwolle stand lange als Qualitätssiegel für sich, heute gilt das so nicht mehr.
Ein Thema, das in der Herstellung eine immer größere Rolle spielt, ist Nachhaltigkeit. Dazu gehören die Produktionsbedingungen für die Menschen, die Baumwolle anbauen, aber auch ökologische Aspekte. Ist das eine Art Revolution oder eher ein neuer Name für etwas, dass es im Grunde schon immer gab?
Es ist kein Geheimnis, dass man Lieferanten und Mitarbeiter verliert, wenn man ihnen kein gutes Auskommen bietet. Bekannt ist auch, dass Baumwolle hauptsächlich ein Produkt der Entwicklungs- und Schwellenländer ist. Die Lebensgrundlage eines Baumwollfarmers ist sein Boden, also wird er alles dafür tun, dass der Boden nicht auslaugt und ihn nicht mehr versorgen kann. Diese Umstände sorgen schon für eine gewisse Nachhaltigkeit. Zudem ist Baumwolle an sich schon immer ein nachhaltiger Rohstoff gewesen. Er wächst nach und ist zu 100 Prozent biologisch abbaubar, ganz anders als künstliche Mikrofasern.
Das alleine reicht aber offenbar nicht, es gibt Vorurteile gegenüber Baumwolle: Bei ihrem Anbau würden Wasser verschwendet, Gentechnik und Chemie eingesetzt und Kinder ausgebeutet.
Es ist immer schwierig, wenn europäische Ansprüche die Umstände vor Ort außen vor lassen. Baumwolle wird anders als Kaffee, Kakao oder Getreide überwiegend im sogenannten Kleinfarming angebaut. Die Farmer, vor allem in Afrika, pflanzen Baumwolle durchschnittlich auf etwa einem Hektar an, rund 200 bis 250 Millionen Kleinbauern weltweit leben unter anderem vom Baumwollanbau. Die Verantwortung ist also enorm. Bei Kleinbauern helfen die Kinder in der Regel auf dem Feld mit, wie es wohl auch hierzulande in Landwirtschaftsfamilien noch üblich ist. Natürlich muss man darauf achten, dass sie nicht etwa Baumwolle pflücken statt zur Schule zu gehen, aber Kinderarbeit generell zu verbieten, würde den Farmern ihre Existenzgrundlage entziehen. Chemie setzen Kleinfarmer nur im äußersten Notfall ein, weil sie sie teuer zu stehen kommt, sie ihre Ernte aber nicht aufs Spiel setzen können. Es ist also kaum möglich, für den Baumwollanbau ein- und dieselben Nachhaltigkeitsstandards festzulegen, schon gar nicht, wenn man das Überleben von zigtausend Kleinfarmern in Afrika weiterhin sichern will. Man muss die Augen auch für die andere Seite der Medaille öffnen.
Ein Problem beim Thema Nachhaltigkeit scheint auch die Zertifizierung zu sein.
Das ist richtig. Es ist unmöglich, Tausende von Kleinbauern in Afrika nach einem bestimmten Standard zu zertifizieren. Viele von ihnen produzieren nachhaltig, können es aber nicht nachweisen. Damit würden die Ärmsten der Armen aus der Lieferkette ausgeschlossen, an deren Ende Textilien mit einem bestimmten Qualitätslabel stehen, obwohl sie die Kriterien erfüllen. Das kann nicht sein, daran müssen wir arbeiten.
Die Bremer Baumwollbörse ist seit gut drei Jahren Mitglied des Bündnisses für nachhaltige Textilien, das sich zur Aufgabe gemacht hat, die Bedingungen in der weltweiten Textilproduktion zu verbessern. Obwohl die Baumwollbörse zu den ersten Mitgliedern zählte, hatten Sie zunächst Vorbehalte. Warum?
Die Ansprüche des deutschen Textilbündnisses sind hoch. Das ist an sich nichts Schlechtes, aber man verändert die Welt eben nicht über Nacht. Die Zertifizierung ist ein gutes Beispiel: Es ist wichtig, alle Zertifizierungsinitiativen, ob in Asien, Südamerika oder Afrika, zu unterstützen, indem man sich auf einheitliche Kriterien einigt, schließlich haben alle dasselbe Ziel. Versachlichung und Differenzierung ist wichtig sowie ein gewisser Pragmatismus. Ideologie und Verteuflung bringen gar nichts. Wir können den Baumwollbauern nichts aufoktroyieren, wir müssen sie für die gemeinsame Sache gewinnen.
Verbraucher tragen auch Verantwortung – beispielsweise, wenn sie ein Baumwoll-T-Shirt quasi für einen Appel und ein Ei kaufen.
Selbstverständlich sollten sich Verbraucher bei besonders günstigen Textilien fragen, wie sich das für alle Beteiligten in der Herstellungskette rechnen kann. Bedeutsamer scheint mir, dass man als Konsument hinterfragt, nach welchen Kriterien man einkauft, wo die Prioritäten liegen – ist es der Preis, die Qualität, die Produktionsbedingungen und ein Nachhaltigskeitsnachweis in Form einer Zertifizierung?
Und – worauf kommt es deutschen Verbrauchern an?
Untersuchungen zufolge spielen das Design und die Funktion neben dem Preis die entscheidenden Rollen. Das ist ein Problem. Nachhaltigkeit verursacht Mehrkosten. Sie mögen gering sein, werden im Markt aber nicht überall akzeptiert.
Große Modeketten werben inzwischen auch mit Transparenz, Bio-Baumwolle-Qualität und Nachhaltigkeitsberichten. Ist das nicht ein großer Fortschritt?
Dagegen spricht nichts, aber man muss schon genauer hinsehen: Hat das wirklich Substanz oder ist das ein Marketinginstrument? Als großes Label in Europa kann man ohne solche Initiativen kaum noch überleben.
Sie beziehungsweise das deutsche textile Bündnis haben auch Forderungen an die Bundespolitik formuliert. Welche?
Wichtig ist, dass Verbraucher aufgeklärt sind und nachvollziehen können, wie und wem es nutzt, wenn Textilien, die nachhaltig produziert worden sind, etwas teurer sind. Viele Verbraucher wissen nicht, wie viele Existenzen allein in Afrika an Baumwolle hängen und dass ihre Kaufentscheidung den Kleinfarmern helfen kann. Und es darf nicht sein, auch da erwarten wir Hilfe von der Bundesregierung, dass an andere Fasern weniger Anforderungen gestellt werden als an Baumwolle. Baumwolle hat es im Markt schon schwer genug. Wir haben lange gedacht, dass Baumwolle sozusagen für sich spricht. Die Zeiten sind vorbei, wir müssen mehr für die Vorteile von Baumwolle werben.
Das bedeutet auch, dass sich jeder Versuch verbietet, Baumwolle quasi künstlich nachzubilden.
Unter Nachhaltigkeitsaspekten verböte sich das gewissermaßen schon. Mir ist allerdings auch nicht bekannt, dass es in diese Richtung irgendeine Entwicklung gäbe.
Das Interview führte Silke Hellwig
Zur Person:
Fritz A. Grobien ist seit 2004 Vizepräsident der Bremer Baumwollbörse. Zudem war er in diversen internationalen Baumwoll- und Textilgremien tätig, darunter Board der Cotton made in Africa Nachhaltigkeitsinitiative.