Benzin und Diesel, Strom und Gas, Getreide und Gemüse. Der Anstieg der Preise ist omnipräsent. In einem Kommentar schreiben Sie, dass „Inflationsangst“ in der Luft liege. Die Folgen sind schon längst im Portemonnaie spürbar. Bereitet Ihnen die Entwicklung Sorge?
Mechthild Schrooten: Das würde ich nicht sagen. Es gäbe, wenn man Preisstabilität wieder erreichen wollte, geldpolitisch viele Möglichkeiten, einzugreifen. Sorgen macht mir weniger die Inflation selbst, sondern eher die Auswirkung auf einzelne Menschen. Denn der Anstieg betrifft alle mit kleinem Portemonnaie besonders. Ich sehe die Politik dringend gefordert, da zu intervenieren und zu entlasten.
Was schwebt Ihnen vor?
Es gäbe ganz verschiedene Instrumente. Wir haben jetzt gerade erlebt, dass der Hartz-IV-Satz erhöht wurde – so minimal, dass diese Inflation auf keinen Fall irgendwo aufgefangen wird. Da hat die Politik eine Möglichkeit ausgelassen. Für Studierende könnte man das BAföG erhöhen. Es wäre auch denkbar, dass die Energiepolitik stärker eine soziale Komponente beinhaltet und Einnahmen aus den Umlagen für Sozialpolitik genutzt werden. Ein Teil der Preiserhöhungen ist ja politisch auch induziert.
Zum Beispiel bei den Spritpreisen.
Genau. Es soll eine Lenkung erzielt werden. Das schließt aber nicht aus, auf der anderen Seite überproportional Betroffene zu entlasten. Abgesehen von Transferzahlungen wäre ja möglich, dass man über die Pendlerpauschale nachdenkt – und übrigens auch über das Homeoffice. Vielleicht müssen einige dann ja gar nicht mehr so viel pendeln? Aus meiner Sicht lassen sich aus den aktuellen disruptiven Prozessen viele Chancen ableiten. Wir sehen sie meistens nicht, sondern verharren bei der Angst: Wer weiß, was jetzt kommt? Faktisch können die Prozesse aber zu Verhaltensänderungen führen, die uns durchaus weiterbringen.
Die Grünen haben angesichts der Verteuerungen im Energiebereich vorgeschlagen, an die Bürger einen Ausgleich zurückzugeben. Wenn die Preise weiter steigen, wird das künftig noch wichtiger.
Ja, natürlich. Wir haben eben, das müssen wir uns auch eingestehen, unsere ökologischen Hausaufgaben nicht gemacht.
Inwiefern?
Wir haben immer gute Ideen. Wenn es jedoch dann an die Umsetzung geht, ist man zurückhaltender. Wir haben zwar jahrelang über den Ausbau erneuerbarer Energien diskutiert. Jetzt zeigt sich aber unsere immer noch extreme Abhängigkeit von fossilen Energien, die in erster Linie für die Preisdynamik sorgt. Das wollten wir doch eigentlich überwinden! Wenn wir Veränderungen im Schneckentempo angehen, dann verschieben wir Problemlösungen nur nach hinten, und dann wird es immer teurer. So wie jetzt.
Woran liegt das? Es fielen gerade die Worte Angst und Zurückhaltung. Sind das aus Ihrer Sicht die Bremsklötze, warum viele Dinge noch nicht mit der Kraft angepackt wurden, die eigentlich nötig wäre?
Ich habe das Gefühl, dass schnell gesellschaftliche Panik unterstellt wird, wenn es um Veränderung geht. Die Politik setzt oft auf Stabilität und Kontinuität: Das, was gestern gelaufen ist und sich bewährt hat, das ist dann wohl auch eine Lösung für die Zukunft. Die Gesellschaft ist aber viel innovativer, zukunftsorientierter und belastbarer, als die Politik denkt. Wir haben gerade gesehen, dass viele Menschen bei allen Belastungen mit persönlicher Stärke durch die Krise gegangen sind.
Das Verharren am Alten könnte zudem der Grund für Panik in der Zukunft sein.
Genau. Wie gut stünden wir jetzt da, wenn wir uns schon längst zurücklehnen könnten, weil überall Solardächer angebracht sind, es genügend Windkraftanlagen gibt und und und. Auch die Idee der Elektromobilität kommt ja eigentlich erst auf Druck von außen. Das ist für einen Autostandort wie Deutschland sehr überraschend.
Im September betrug die Inflationsrate im Vergleich zum Vorjahresmonat 4,1 Prozent. Die Entwicklung hängt auch damit zusammen, dass im vergangenen Jahr die Preise fielen, als die Wirtschaft wegen der Pandemie ausgebremst wurde. Die Mehrwertsteuer wurde abgesenkt. Haben Experten die Inflation kommen sehen?
Ja. Das war aufgrund der Effekte zu erwarten. Die Frage ist nur, wie sich das weiterentwickelt, denn nun kommt noch der höhere Ölpreis dazu. Jetzt verbindet sich das Ganze zu einer Melange, und diesem Preismechanismus kann sich keiner entziehen: Die Energiepreise steigen, und deshalb werden Unternehmen ihre Dienstleistungen oder Produkte auch verteuern. Das ist ganz logisch. Dann kommen wir leicht in eine Preisspirale. Den einmaligen Preissprung haben nahezu alle erwartet, aber offen ist derzeit, ob die Inflation sich in den nächsten zwei Jahren verfestigt.
SPD, Grüne und FDP wollen Hartz IV ein Ende setzen. Zumindest soll in Zukunft stattdessen ein sogenanntes Bürgergeld gezahlt werden. „Das Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein.“ Glauben Sie diesem Versprechen?
Wir sind ja in einer Gesellschaft, in der man sagen kann: Naming is framing. Es reicht aber natürlich nicht, Hartz IV nur anders zu benennen, um etwas zu verändern. Wenn der Satz, wie aktuell, um gerade mal drei Euro erhöht wird, spricht das eine andere Sprache.
Stellen wir uns vor, dass Sie einen Platz am Koalitionstisch hätten. Wofür würden Sie denn plädieren?
Schauen Sie, am Koalitionstisch sitzen politische Expertinnen und Experten und ihre Rechtsberater und Rechtsberaterinnen. Denen kann ich sagen: Wir leben in einer reichen, innovationsfreundlichen Gesellschaft. Jetzt geht es um Stabilität in disruptiven Zeiten. Diese gewinnt man auch, indem man alle am Wohlstand partizipieren lässt. Die Auszahlungen an Transfer-Empfänger müssten steigen. Und der bürokratische Zugang zu staatlichen Dienstleistungen müsste entschlackt werden – auch für Unternehmen. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal so einen Antrag ausgefüllt haben, das ist anspruchsvoll.
Welche Bilanz, offenbar kurz vor dem Ende, ziehen Sie für Hartz IV?
Es ist so ausgestattet, dass Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sehr schwer möglich ist. Und wir leben in einer Gesellschaft, in der viele Kinder von Hartz IV leben. Die Reform war ja damals gedacht, um Anreize zu schaffen, zu geringen Löhnen arbeiten zu gehen. Es gab hohe Arbeitslosigkeit. Und jetzt trifft man damit viele Kinder! Dass Kinder in so einer prekären Situation dauerhaft groß werden, das ist ein Riesenproblem. Es gibt reiche Menschen, die selbst sagen: Wir müssen da was machen. Auch Unternehmen wollen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Manchmal denke ich, dass die Politik den Menschen und Unternehmen zu wenig zutraut.
Das Sondierungspapier sieht derzeit keine Umverteilung vor.
Warten wir ab. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine stabile Gesellschaft geben wird, wenn nur auf den Leistungsgedanken des Einzelnen gesetzt wird. Die Probleme, die wir jetzt angehen müssen, die können wir nur solidarisch lösen – so wie in der Pandemie. Nehmen wir die Überschwemmungskatastrophe. Da kann ein Einzelner mit Leistung wenig machen! Das muss eine Gesellschaft lösen.
Wären Sie also für eine stärkere Umverteilung?
Ja. Es muss dafür nicht unbedingt den Vermögenden viel weggenommen werden. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man am zukünftigen Wachstum alle gleichermaßen teilhaben lässt. Dann entstehen wesentlich weniger Verteilungskonflikte, als heute immer wieder diskutiert werden. Ich finde eine Vermögenssteuer oder eine Vermögensabgabe gut. Doch wenn das nicht praktikabel ist, dann sollten wir am 'Wachstum des Kuchens' alle teilhaben lassen. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass dieser Kuchen demnächst wieder wächst.