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Ökosystem Tiefsee Warum Bremerhavener Forscher immer wieder ins arktische Meer fahren

Ein einzigartiges Langzeitforschungsobservatorium im arktischen Ozean feiert Jubiläum: Seit 25 Jahren erkunden Forscher des Alfred-Wegener-Instituts ihren "Hausgarten" – der in bis zu 5500 Metern Tiefe liegt.
20.07.2024, 05:00 Uhr
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Von Björn Lohmann

„Ursprünglich sind wir der Frage nach der hohen Biodiversität in der Tiefsee nachgegangen, die vergleichbar ist mit dem tropischen Regenwald“, erinnert sich Thomas Soltwedel, Leiter der Tiefseegruppe am Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven. Das ist jetzt 25 Jahre her. Seitdem kehren Soltwedel und seine Kollegen jährlich an die gleichen Orte im arktischen Ozean zurück. Denn dort liegt seit damals der „Hausgarten“, ein in der Polarregion einzigartiges Langzeitforschungsobservatorium mit heute 21 Stationen. Gerade in diesen Tagen ist der Tiefsee-Ökologe mit dem Forschungsschiff Polarstern wieder vor Ort und besucht den "Hausgarten", um Experimente fortzusetzen und alljährliche Proben zu nehmen.

„Wir haben uns damals entschlossen, immer in das gleiche Gebiet zu fahren, um so über die Zeit eine Vorstellung für natürliche und vom Menschen verursachte Veränderungen im arktischen, marinen Ökosystem zu bekommen“, erläutert Soltwedel. Ursprünglich hatte die Tiefseegruppe des AWI dazu nur wenige Stationen vor Spitzbergen eingerichtet. Einzelne in der östlichen Framstraße – dem Seeweg zwischen der Grönlandsee im Nordatlantik und der Wandelsee im arktischen Ozean – wurden mit den Jahren aufgegeben, weil sie zu dicht beieinanderlagen, um wissenschaftliche Mehrwerte zu bieten. Dafür kamen weitere in der westlichen Framstraße hinzu.

Bis in 5500 Meter Tiefe

Viele der Messstationen befinden sich unter dem Meereis, sie decken Bereiche des Wassers von 250 Meter unter der Oberfläche bis zum Meeresboden in 5500 Metern Tiefe ab. Die autonomen Systeme der Stationen vermessen ganzjährig ihre Umwelt und erfassen physikalische, geochemische und biologische Parameter. Dazu zählen etwa Temperatur, Salzgehalt und Strömung, aber auch der Eintrag organischen Materials von der Wasseroberfläche in die Tiefsee.

Letzteres ist dort unten die wichtigste Nahrungsquelle, weil kein Licht dorthin dringt und dadurch weder Pflanzen noch Bakterien mittels Fotosynthese Biomasse erzeugen können.

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In den 25 Jahren seit seiner Gründung hat der "Hausgarten" dazu beigetragen, manche Meinung über die Tiefsee zu korrigieren. „Die Tiefsee wurde immer als ein vergleichsweise träges Ökosystem angesehen“, berichtet Soltwedel. Angesichts der Wassertiefen von mehreren 1000 Metern habe man angenommen, dass Prozesse an der Meeresoberfläche kaum Einfluss auf das Tiefseeökosystem hätten oder dass, wenn dem so wäre, die Reaktion des Tiefseeökosystems nur sehr träge sei. „Wir konnten zeigen, dass dies nicht der Fall ist“, betont der Tiefsee-Ökologe. „Tatsächlich spiegeln sich Veränderungen an der Meeresoberfläche sehr zeitnah – innerhalb von Wochen oder Monaten – auch am Tiefseeboden wieder.“

Ein Beispiel für einen solchen Zusammenhang ist der menschengemachte Klimawandel: „Die auffälligen Veränderungen in der Planktonzusammensetzung in der Framstraße, die durch die stetige Erhöhung der vom Menschen verursachten Wassertemperaturen verursacht wurde und wird, führte zu einem reduzierten Nahrungseintrag in die Tiefsee“, erklärt Soltwedel. „Wir sehen – über den langen Zeitraum – eine deutliche Verarmung in der Lebenswelt des Tiefseebodens.“

Einflüsse auf den Klimawandel

Das Treibhausgas CO2 ist zudem sehr direkt mit der Tiefsee verbunden. Bakterien und Phytoplankton nehmen es an der Meeresoberfläche aus der Atmosphäre auf und bilden damit ihre Biomasse. Sterben die Mikroorganismen, sinken sie zum Meeresboden ab und speichern dort für Tausende Jahre den Kohlenstoff, der währenddessen nicht zurück in die Atmosphäre gelangt und somit auch nicht das Klima weiter aufheizt. Wie Schmelzwasser aus driftendem Meereis die Effektivität dieser biologischen Kohlenstoffpumpe verändert und wann Kohlenstoff aus der Atmosphäre aufgenommen und gespeichert wird, entschlüsselten AWI-Forscher anhand von Daten aus dem "Hausgarten".

Außerdem sind atlantische Einflüsse auf den arktischen Ozean im Fokus der "Hausgarten"-Forscher, denn die Arktis erwärmt sich im Zuge des Klimawandels viel stärker als andere Regionen. Polare Zooplanktonarten müssen mit steigenden Wassertemperaturen zurechtkommen, während sie gleichzeitig einer zunehmenden Konkurrenz durch boreal-atlantische Schwesternarten ausgesetzt sind, die durch einen stärkeren atlantischen Zustrom in den arktischen Ozean gelangen. Experimente konnten zeigen, dass es arktische Kleinkrebsarten gibt, die besser als gedacht mit dem wärmeren Wasser zurechtkommen. Das größere Problem für ihren Fortbestand sind demnach ihre aufdringlichen atlantischen Verwandten.

Nicht zuletzt dokumentieren die Filme und Fotos des "Hausgartens", wie sich die Menge Müll im Meer entwickelt. Immer häufiger lassen sich menschliche Hinterlassenschaften demnach selbst in der arktischen Tiefsee nachweisen.

Mit dem Tauchroboter zu Besuch

Der aktuelle Besuch mit der "Polarstern", dem Forschungsschiff des AWI, gehört zur jährlichen Routine. Dennoch gibt es in diesem Jahr eine Besonderheit: Mit an Bord ist ein ferngesteuertes, tieftauchendes Unterwasserfahrzeug, mit dem die Forscher am Tiefseeboden untersuchen wollen, wie sich etwa die Ozeanversauerung und veränderte Nahrungsverhältnisse auf das Leben dort unten auswirken.

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Für die Zukunft hofft Soltwedel, dass der "Hausgarten" noch viele Geburtstage feiern wird: „Selbstverständlich haben wir über die Jahre schon eine ganze Menge über das marine Ökosystem des arktischen Ozeans und seine zeitliche Variabilität gelernt, aber natürlich gibt es auch immer noch viele offene Fragen, auf die wir Antworten suchen, um letztendlich Vorhersagen treffen zu können, wie sich dieses Ökosystem in Zeiten globaler Veränderungen entwickelt."

Zur Sache

Ein Garten, offen für alle
Auch außerhalb der Polarregion gibt es nur wenige ozeanische Langzeitobservatorien. Anders als der "Hausgarten" haben sie jedoch entweder die Wassersäule oder den Tiefseeboden im Fokus. Außerdem sind die biologischen Langzeitexperimente ein Alleinstellungsmerkmal des AWI-Projekts. Andere nationale und internationale Institute sind daher gern gesehene Gäste. Deutlich haben das die Forscher mit einer augenzwinkernden Geste gemacht: In Zeiten, in denen immer mehr Staaten ihre Flaggen in den Tiefseeboden rammen, um Gebietsansprüche zu markieren, hat auch das AWI seinen "Hausgarten" markiert: mit einem Gartenzwerg.

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