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Rinkes Rauten Die Kriminalisierung der Menschenliebe

Der Dramatiker und Romanautor Moritz Rinke schaut in "Rinkes Rauten" jeden Sonntag im WESER-KURIER auf die Welt. Thema muss nicht immer der SV Werder sein, Raute hin oder her.
20.11.2021, 18:35 Uhr
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Von Moritz Rinke

Ezzat Mardini, der heute in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Spandau lebt, war einer der besten Schwimmtrainer in Damaskus. Seinen Töchtern Yusra und Sarah brachte er früh das Schwimmen bei, bald wurden sie Leistungssportlerinnen und trainierten im syrischen Nationalteam. Dann kam der Bürgerkrieg.

Yusra und Sarah sind da gerade 17 und 20 Jahre alt. Als sie hören, dass einem Jungen aus der Nachbarschaft die Flucht nach Deutschland gelungen ist, wollen es die beiden Töchter auch versuchen. Sie buchen einen Flug nach Beirut, reisen weiter nach Istanbul und finden sich plötzlich auf dem Taksim-Platz mit Tausenden von anderen Flüchtlingen wieder. Schlepper bringen sie auf ein Schlauchboot, 1200 Dollar pro Person. Ziel: die Nordküste der griechischen Insel Lesbos.

Die beiden berichten: Nach wenigen Metern springt einer der Schlepper, der sich als Kapitän ausgegeben hatte, aus dem Boot und lässt die Besatzung allein, 20 Menschen, dreimal so viel, wie auf so einem Schlauchboot zugelassen sind.

2016 werden die beiden Töchter als Heldinnen gefeiert.

Nach ein paar Kilometern fällt der Motor aus, das Boot füllt sich mit Wasser, die beiden Schwestern springen ins Meer und ziehen das Boot aus eigener Kraft, drei Stunden lang, bis sie frühmorgens in Skala Sikameneas landen, einem kleinen Dorf auf Lesbos. Danach machen sie sich auf, über die Balkanroute, bis nach Berlin-Spandau.

2016 werden die beiden Töchter plötzlich als Heldinnen gefeiert, sogar von der „Bunten“ für einen „Bambi“ vereinnahmt, sie stehen zwischen Jogi Löw und Barbara Schöneberger. Sarah beginnt Politik an einem College in Berlin zu studieren, bricht aber das Studium ab, sie ist zu enttäuscht von Politik. Sie kehrt immer wieder nach Lesbos zurück, als Rettungsschwimmerin, als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin und Übersetzerin in einer Klinik im Camp Moria.

2018 wird sie auf Lesbos verhaftet. Der Vorwurf: Menschenschmuggel, Spionage, Mitglied in einer kriminellen Vereinigung. Eine junge, geflüchtete Syrerin, die gut schwimmen kann und Menschenleben retten will, wird 107 Tage lang in einem Athener Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt und kommt schließlich nur auf Kaution frei.

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November 2021: Am vergangenen Donnerstag begann in Mytilene auf Lesbos der Prozess gegen Sarah Mardini und weitere 23 Angeklagte der Hilfsorganisation Emergency Response Center International, es geht um Haftstrafen bis zu 20 Jahren. Amnesty International erklärte, Griechenland und andere europäische Staaten würden mit solchen Anklagen versuchen, humanitäre Helfer abzuschrecken und einzuschüchtern.

Kann man sich das vorstellen? In Griechenland, im Mutterland der „Philanthropie“, der „Hilfsbereitschaft“, der „Menschenliebe“ werden Schauprozesse geführt, um genau diese abzuschaffen?

Es ist ein trauriges Bild der Europäischen Union. An der polnisch-belarussischen Grenze werden Hilfsorganisationen seit Wochen nicht zugelassen, Flüchtlinge mit Pushbacks von polnischen Grenzsoldaten zurückgedrängt und von Belarus nicht wieder reingelassen. Pushback lautet der technische Begriff für Gewalt gegen Schutzsuchende, was EU-Recht und die Genfer Flüchtlingskonvention verletzt, die ein Zurückweisungsverbot beinhalten.

Die neue Ampel-Koalition scheint die gewaltsamen Pushbacks gar nicht mehr zu beunruhigen, zumindest sprechen die bald regierenden Grünen jetzt vom „Beistand für Polen“ statt vom völkerrechtlichen Anspruch auf Asyl und einem effektiven Zugang für Schutzsuchende zu einem Asylverfahren, einschließlich an den Grenzen – immerhin war das noch eines der Hauptthemen im Wahlkampf.   

„Seit drei Jahren habe ich ein Trauma“, beschreibt Sarah Mardini die Zeit, in der sie auf ihren Prozess gewartet hat. „Ich wünschte, ich hätte es aus dem Krieg. Ich wünschte, ich hätte es von der Überfahrt.“ Nein, ihr Trauma – auch ein griechisches Wort – erlitt sie in Europa.

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