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Rinkes Rauten Kafka, Kant und unsere Essanfälle

Der Dramatiker und Romanautor Moritz Rinke schaut in "Rinkes Rauten" jeden Sonntag im WESER-KURIER auf die Welt. Thema muss nicht immer der SV Werder sein.
05.05.2024, 07:29 Uhr
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Von Moritz Rinke

Kürzlich hat der Bundeskanzler über Immanuel Kant gesprochen, auf einem Festakt in Berlin zum 300. Geburtstag des Philosophen. Der Bundeskanzler betonte in seiner Festrede die Aktualität Kants, dann sprach er über Putin, der auch am selben Tag in Kaliningrad über Kant gesprochen hatte. In Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, Kants Heimatstadt, ließ Putin sogar Kant-Schokolade verteilen. Putin vereinnahme Kant, sagte der Bundeskanzler in Berlin, Putin habe kein Recht, sich auf Kant zu berufen, denn Aufklärung und Angriffskrieg, das gehöre nicht zusammen.

Mit Franz Kafka, dem nächsten Jubilar, dessen 100. Todestag im Juni bevorsteht, ist es nicht so dramatisch wie mit Kant, aber ebenso kompliziert. Da Jahrestage meist schon ein Jahr im Voraus beginnen und sich dann über das ganze Jahr erstrecken, habe ich über Kafka in letzter Zeit schon viel gehört. Dass er für die Entfremdung des Menschen stehe, (klar), für die Identitätssuche, den Existenzialismus und den Surrealismus (möglich); dass Kafka den Nationalsozialismus vorausgesehen habe (keine Ahnung), die Klimakrise (vielleicht wegen des riesigen Käfers in einer Kafka-Erzählung?), die Berliner Verwaltung (oh ja, kafkaesk), den Nahostkonflikt (Aha), unsere Facebook- und Instagram-Existenz sowie die KI, die künstliche Intelligenz, auch Trump (Fake News).

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Neulich sah ich eine Talkshow, in der ein neuer Kafka-Film beworben wurde. Der Kafka-Darsteller sprach so, als habe man ihn noch schnell vor der Sendung über Kafka gebrieft, die Moderatorin hatte offenbar überhaupt kein Kafka-Briefing erhalten, man sprach aber trotzdem über Kafka.

Ähnliches blüht uns nach Kafka und Kant mit Gottlieb Klopstock, der im selben Jahr wie Kant geboren wurde. Kafka sehen wir ja momentan überall mit seinen traurigen Augen auf den Kinoplakaten, Kants Büste gibt es, wie gesagt, als Schokolade, aber von Gottlieb Klopstock wissen selbst literarisch Interessierte nicht einmal, wie er aussah, geschweige denn, warum wir ihn 300 Jahre nach seiner Geburt noch feiern sollten. Werden wir aber trotzdem, ich verspreche hiermit schon eine Gottlieb-Klopstock-Kolumne.

Nach Klopstock im Juli kommt dann 250 Jahre Caspar David Friedrich im September, da kann man sich auf einiges gefasst machen. In Landschaften an der Elbe soll es sogar Caspar-David-Friedrich-Malkurse geben. Und wenn wir dann wie Caspar David Friedrich malen können, kommt das 200-jährige Werkjubiläum von Beethovens 9. Sinfonie, plus 75 Jahre Grundgesetz! Wir werden die 9. Sinfonie rauf und runter hören, dazu Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

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Dazu gehört allerdings auch die Würde von Kafka, Kant oder Caspar David Friedrich. Es ist eigentlich eine Frechheit, über Kafka in Talkshows zu sprechen, aber nicht den blassesten Schimmer von Kafka zu haben. Der Streit des Bundeskanzlers mit Putin über Kant? Wie unangenehm für Kant, wie vereinnahmend! Von den Caspar-David-Friedrich-Malkursen ganz zu schweigen, ich sehe noch die Malgruppen in den Moorwiesen meiner Heimat vor mir, Malen auf den Spuren von Paula Modersohn-Becker, was für eine Vermessenheit!

Gedenktage zu Künstlern und anderen Geistesgrößen sind hierzulande also Anlass, sich ihnen mit nervtötender Aufmerksamkeit zu widmen. Und da alle dann etwas zum Gedenken machen, muss man eben noch mehr machen als die anderen. Und vor allem früher! Schon letztes Jahr bekam ich eine Anfrage, etwas über Kafka zu schreiben. „Aber Kafka hat doch erst nächstes Jahr im Juni 100. Todestag? Kann ich nicht später liefern, wenigstens im Januar?“, fragte ich. „Zu spät“, hieß es, Kafka werde redaktionell schon 2023 eingetütet.

Ich erinnere mich an das Luther- oder Humboldt-Jubiläum, wir wurden ein ganzes Jahr vollgestopft mit Luther und Humboldt, aber seitdem? Die Erinnerungskultur erinnert irgendwie an Bulimie, an eine Essstörung, an Essanfälle, die uns Kafka, Kant & Co verschlingen lassen, um sie dann wieder zu erbrechen. Und je mehr wir uns erinnern, umso mehr ist das Erinnerte danach vergessen. Bis uns die digitalen Archive termingerecht an den nächsten Gedenktag erinnern. Im nächsten Jahr dann Nietzsche.

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